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Im Buch von Ursula Schuster "Lauter Stolpersteine, Über das Leben mit Epilepsie" gibt es einen Aufsatz über Hella Mohr (1935-2013)

Fallbeschreibungen von Veit Müller

Hella

Hella, die heute (Jahr 1994) 59 Jahre alt ist, sagt von sich, daß sie erst mit 53 ein glücklicher, selbstbewußter und ausgeglichener Mensch wurde. Sie hat Freunde, liebe Verwandte und ist >fast nur von netten Menschen umgeben<. Sie lebt in ihrer eigenen Wohnung und hat genug Geld für ihren Lebensunterhalt. Inzwischen hilft sie auch vielen, denen es nicht so gut geht wie ihr heute.

Doch noch vor vielen Jahren fühlte sie sich in der >Vorhölle<, wie sie recht drastisch ihre lange Leidenszeit bezeichnet. Dabei begann alles völlig normal. Hella war ein gesundes Kind mit gutem Appetit. Sie lebte mit ihren sechs Geschwistern auf dem Lande. Ihre ersten Schuljahre verliefen problemlos und sie verstand sich gut mit ihrer Lehrerin.

Ab der 3. Klasse bemerkte die Lehrerin aber, daß Hella >glotzte<. Auch ihre Familie fand, daß sich das Mädchen zeitweise ungewöhnlich verhielt. Im Unterricht hatte Hella ihre ersten Absencen. Sie selbst fühlte sich häufig >abwesend<, wie sie heute erzählt. Ihre Zensuren wurden schlechter.

In Hellas Schule war eine Lehrerin für vier Jahrgangsstufen zuständig. Sie mußte alle Fächer, einschließlich Musik, Turnen und Handarbeit, unterrichten. So gelang es Hella leicht, ihre zeitweisen Absencen über weitere vier Jahre zu verbergen. Sie schaffte schließlich auch den Wechsel aufs Gymnasium. Allerdings wurde sie jetzt oft wegen ihres >schwachen Herzens< vom Turnen befreit. Wie sich später herausstellte, litt sie zu diesem Zeitpunkt schon unter leichten Anfällen, die damals als Ohnmachten angesehen wurden.

Hellas Geschwister waren immer sehr gut in der Schule, weshalb sie mehr und mehr in eine Außenseiterposition gedrängt wurde. Ihre Mutter behütete sie sehr und ihr Vater war, wie sie sich heute erinnert, >sehr traurig darüber<, daß ihre schulischen Leistungen so schlecht ausfielen. Ihr Onkel verfaßte zu Weihnachten stets einen Brief, in dem er jedes der Kinder mit Bemerkungen versah. Seine Aussagen über Hella waren für sie immer derart verletzend, daß sie weinend den Raum verließ.

Nach ihrer Zeit im Gymnasium arbeitete sie als Praktikantin in einem Kinderheim in der Schweiz. Dort brach sie sich bei einer ihrer >Ohnmachten< ein Knie und zog sich zusätzlich eine Gehirnerschütterung zu. Ihr wurde gekündigt.

Sie begann eine Ausbildung zur Hauswirtschaftsleiterin an einer Frauenfachschule. Diese Ausbildung machte ihr Spaß. Sie lernte gerne und gut und hatte auch viele Freunde dort.

Im Anerkennungspraktikum bei der Diakonie — Hella war gerade 20 Jahre alt - erkannte die dortige Oberin, daß Hella an Epilepsie litt. Ihre Krankheit war inzwischen auch nicht mehr zu übersehen. Bis zu achtundzwanzigmal pro Tag wurde Hella von einem schweren Anfall (Grand mal) getroffen. Sie magerte ab und war für die damaligen Fachleute >ein hoffnungsloser Fall<.

Hellas weitere Versuche, in der Hauswirtschaft oder in der Verwaltung zu arbeiten, scheiterten allesamt. Sie lebte bei ihren Eltern, die sich dagegen wehrten, einen Nervenarzt aufzusuchen. Statt dessen wurde ein weit entfernt wohnender Heilpraktiker konsultiert. Die Bahnfahrten dorthin waren wegen ihrer häufigen Anfälle sehr anstrengend für Hella wie auch für ihre Mutter.

Der Heilpraktiker verordnete Hella zum ersten Mal Zentropil. Die Behandlung war teuer und überforderte die finanziellen Kräfte der Familie. Weil es ihr auch nicht besser ging, wurde Hella depressiv. Sie hatte das Gefühl, daß niemand ihr helfen könne. Ihr Zustand verschlimmerte sich zusehends. Sie erlitt bei Anfällen mehrere Frakturen, und, was noch viel schlimmer war, sie verlor die Kraft, ihr Leben gestalten zu wollen. In dieser Situation nahm sie einmal eine ganze Schachtel Zentropil ein und wurde wegen des >Suizidversuchess< in die Wachstation einer Nervenklinik eingeliefert. Es folgten noch weitere solche Vorkommnisse, die alle mißinterpretiert wurden. Denn eines war eigentlich klar: Hella war zwar psychisch nicht sehr stabil, doch sterben wollte sie nicht. Niemand kam zu diesem Zeitpunkt auf die Idee, daß diese >Suizidversuche< auch psychomotorische Anfälle sein könnten.
In der Klinik trat sie einmal in einen Hungerstreik und magerte stark ab. Ärzte und Pflegepersonal beachteten sie allerdings nicht weiter und ließen sie gewähren. Die Folge ihrer körperlichen Schwäche: Ein Intelligenztest, dem sie unterzogen wurde, zeigte ein für sie niederschmetterndes Ergebnis.

Hella vereinsamte zusehends. Die Oberin und eine Schwester des Altenheims, in dem Hella früher gearbeitet hatte, besuchten sie ein- mal in der Klinik. Die beiden Frauen erkannten ihre Situation und überzeugten die Ärzte davon, Hella auf eine andere Station zu verlegen. Dort fühlte sie sich angenommen und kam wieder zu Kräften.

Eines Tages aber - sie war in einem Schlafsaal mit zwölf Patientinnen untergebracht - wurde sie Zeugin, wie eine Patientin neben ihr eine Elektroschockbehandlung erhielt. Hella empfand diese Methode als >sehr grausam< und es traf sie tief, als man ihr sagte, daß sie im Anfall genauso aussähe. Sie haßte nun sich und ihre Krankheit.

Hellas Anfälle, die auch immer öfters psychomotorische Züge trugen, verschlimmerten sich. Die Ärzte probierten alle zur Verfügung stehenden Medikamente aus, doch der Erfolg war gering. Beruhigungsmittel wirkten sich nachteilig aus, einzig Valium half. Dieses Mittel setzten die Ärzte jedoch bald wieder ab, weil sie befürch- teten, daß Hella davon süchtig werden könnte, Hella selbst sah diese Gefahr nicht. Sie hat auch später Valium in Notfällen eingenommen . und nach eigener Aussage ging es ihr dabei immer gut.

Nach einem Schädelbasisbruch, den sie sich bei einem Anfall zugezogen hatte, war Hella, inzwischen 24 Jahre alt, halbseitig gelähmt. Ihre jüngeren Zwillingsbrüder besuchten sie täglich und langsam konnte sie auch wieder eine Beziehung zu ihrer Familie aufbauen, von der sie jahrelang nichts hatte wissen wollen. Die Brüder stellten sie immer wieder auf die Beine und führten sie den Flur der Station entlang. Einmal sah ein vorbeikommender Arzt, daß sie wieder ihren Fuß etwas bewegen konnte und verordnete ihr daraufhin Krankengymnastik. Ihre Hoffnung stieg und sie begann, obwohl sie nach wie vor noch viele Anfälle hatte, gegen die Krankheit zu kämpfen. Sie fing an, wieder ihre geistigen Fähigkeiten zu schulen. In dieser Zeit löste sie sich auch vom Pietismus.

Es wurde eine lange, schwere Genesungszeit. Verschiedene Versuche, zu arbeiten, mißlangen, und im Büro zu sitzen, war ihr ein Greuel. Sie half in einem Altersheim, was ihr sehr gefiel. Die Oberin dieses Heimes half ihr in ein neues Leben. Sie verschaffte ihr die Möglichkeit zur Umschulung als Altenpflegerin. Diese Ausbildung, die sie auch abschloß, bereitete ihr viel Freude.

Zwei Schwestern, die viel Geduld und Liebe für sie aufbrachten, standen ihr bei jedem Anfall bei und milderten ihre Depressionen, die diese Anfälle auslösten. Auch der Kontakt zur Leiterin der Frauenfachschule, die ihr während ihrer ersten Ausbildung schon beigestanden hatte, half ihr, diese schwere Zeit zu überstehen. Ohne diese Menschen, so meint Hella, hätte sie nicht ins Leben zurückgefunden.

Einem Arzt gelang es schließlich, Hella mit den Medikamenten Zentropil und Mylepsin gut einzustellen. Auch war er ihr eine psychische Hilfe. Er nahm sie ernst und hörte ihr zu. Er empfahl ihr, sich zusätzlich in eine ambulante psychiatrische Behandlung zu begeben. Weil die Medikamente Hella müde machten, reduzierte sie die Indikation selbst. Sie erlitt danach fünf lebensbedrohliche Anfälle (Status epilepticus). Heute rät sie jedem Epilepsiekranken, nicht eigenmächtig Medikamente zu reduzieren.

Nach sechs Jahren in Pflegeheimen konnte Hella eine selbständige Arbeit in einem Erholungsheim annehmen. Durch einen verständnisvollen Chef, die Unterstützung ihrer Familie, die regelmäige Einnahme von Medikamenten und die sachverständigen Ärzte, wurde ihr ein weitgehend normales Leben ermöglicht.

Hella entwickelte auch eine >vorbeugende Intelligenz<. Das heißt, wenn sie durch ihre Auren vor einem Grand mal und einer inneren Unruhe vor psychomotorischen Anfällen gewarnt wurde, konnte sie noch Vorsorgemafsnahmen treffen. So setzte sie sich bei Bahnfahrten in ein Abteil neben der 1.Klasse, damit sie sich bei einem Anfall schnell hinlegen konnte. Sie trug auch ein Schild um den Hals, welches darauf hinwies, daß sie epilepsiekrank sei, und man nichts unternehmen solle, da der Anfall vorübergehen würde. Oft war dies hilfreich, doch zuweilen auch nutzlos und der Schaffner verdächtigte sie manchmal sogar, daß sie sich auf diese Art eine komfortablere Bahnfahrt erschwindeln wolle.

Oft genug wurden ihre Anfälle als Trunkenheit angesehen. Selten fand sie Verständnis für ihre Krankheit. Besonders dann nicht, wenn sie während eines Anfalls unvernünftige Dinge tat und sich hinterher an nichts mehr erinnern konnte.

Sie arbeitete neun Jahre in dem Erholungsheim und übernahm sogar nachts die Rufbereitschaft. Wegen ihrer pflegebedürftig gewordenen Eltern verließ Hella ihre Arbeitsstelle und kehrte in ihre Heimatstadt zurück, um dort wieder im Altenheim zu arbeiten.

Während der Wechseljahre traten dann erneut, trotz regelmäßiger Einnahme von Medikamenten, mehrmals psychomotorische Anfälle auf. Die Wochenenddienste im Altenheim waren wohl doch zu anstrengend für sie. Zudem betreute sie in dieser Zeit ihre pflegebedürftigen Eltern, was eine zusätzliche Belastung darstellte. Die Folge war, daß sie einmal wieder mit einem Status epilepticus in eine Klinik eingeliefert werden mußte.

Im Alter von 52 Jahren stellte sie ihren Rentenantrag, der schnell bewilligt wurde. Hella fühlte sich aber nech stark genug, ehrenamtlich im Altenheim weiterzuarbeiten. Sehr lange pflegte sie im Heim ihren Vater oder ging mit anderen Patienten spazieren. Es ging ihr langsam wieder besser. Nur noch einmal monatlich bekam sie psychomotorische Anfälle, und zwar in den vier bis fünf Tagen, an denen sie sonst ihre Periode gehabt hätte. ;

Seit Jahren ist Hella in einer Selbsthilfegruppe. Zudem betreut sie seit einiger Zeit auch einen anderen epilepsiekranken Mann.

Inzwischen wurde sie auch von Zentropil auf Tegretal 400 retard umgestellt, wegen der Nebenwirkungen auf ihr Zahnfleisch. Diese Umstellung, die sehr langsam erfolgte, gelang gut. Heute nimmt Hella zweimal Tegretal 400 retard und dreimal Resimatil und dazu L-Thyroxin 150. Sie geht einmal jährlich zu einem Neurologen zur EEG-Kontrolle.

Hella leidet zwar heute unter den Nebenwirkungen der vielen Medikamente, doch >was ist dies im Vergleich zu den vielen Anfällen<, sagt sie. So ist sie inzwischen auch mit ihrem Leben zufrieden. Sie kann immer ausschlafen und für sie ist Schlaf wohl das beste Medikament. Sie singt gerne, spielt in einem Orchester Cello und ist weiterhin im Altenheim tätig. Hella ist glücklich darüber, daß sie ihr Leben jetzt selbst gestalten kann.