Südwestpresse 1981
Der „Stifter" der Kilchberger Partnerschaft Jochen Mohr (vorne, zweiter von links) mit denen, die sie seinerzeit aufnahmen und heute weiterführen (von links): Altbürgermeister Richard Henne, Oberbürgermeister Dr. Eugen Schmid, Ortsvorsteher Erich Krauß, Gemeindepräsident a. D. Dr.Bruno Herzer und Gemeindepräsident Hans Gräub.
„Fünfundzwanzig Jahre sind eine für schwäbisch-alemannische Verhältnisse gediegene Verlobungszeit. Da Ehen, denen eine Verlobung vorausging, länger halten als andere, können wir auch aus diesem Grund einer dauerhaften Partnerschaft sicher sein", sagte Oberbürgermeister Dr. Eugen Schmid am Samstag nachmittag im Conrad-Ferdinand-MeyerHaus zu Kilchberg am Zürichsee, ehe er, Gemeindepräsident Hans Gräub und Ortsvorsteher Erich Krauß ihre Unterschriften unter die Partnerschafts-Urkunden setzten. Daß die Kilchberger aus dem Land der Eidgenossen ein Vierteljahrhundert verstreichen ließen, ehe sie die einst spontan geknüpften Kontakte mit den Kilchbergern aus dem Neckartal feierlich besiegelten, liegt nach den Worten von Hans Gräub auch in der vor zehn Jahren erfolgten Eingliederung Kilchbergs nach Tübingen begründet.
Gut vier Wochen vor dem 25. Jahrestag, an dem ein Schweizer Kilchberger offiziell im Dorf am Rarmmertrand vorsprach, und 25 Jahre, fünf Monate und fünf Tage nach Absendung jenes (Wahl-) Briefes durch Jochen Mohr „an das Bürgermeisteramt KiLchberg am Zürichsee", der den Schweizern kundtat, daß es da im Schwäbischen einen Ort gleichen Namens gibt, reiste - nach einer Pause von zehn Jahren - wieder eine offizielle Delegation aus dem tübingerischen Kilchberg an den Zürichsee: Ortsvorsteher und Ortschaftsräte, begleitet von Oberbürgermeister Dr. Eugen Schmid, SPD-Gemeinderat Erwin Geist (die CDU war durch Gemeinde- und Ortschaftsrat Horst Kunz vertreten, die UFW schaffte es nicht, ein Gemeinderatsmitglied mitzuschicken), Altbürgermeister Richard Henne und den einstigen Ortsvorsteher Wolfgang Durka sowie den Vorsitzenden der Vereine, (die Vizepräsidentin der Uniwensität Tübingen, Professor Dr. Hanna Weischedel kam am Samstag nach). Man fuhr (gemeinsam) zweieinhalb unvergeßlichen Tagen, die von Schweizer Gastliichkeit, Großzügigkeit und Gemütlichkeit geprägt waren, entgegen.
Nach der herzlichen (und doch nicht alles gleich umarmenden) Begrüßung - zunächst, an der Autobahnraststätte Kemtthal, dann nach der kurzen Seefahrt von Zürich bis Bendlikon in Kilchberg selbst - fanden sich die beiden Delegationen (auf Schweizer Seite waren's Gemeinderäte und Vereinspräsidenten samt Gemeindepräsident a. D. Dr. Bruno Herzer und Gemeinderatsschreiber a. D. Walter Hauser) zum ersten Meinungsaustausch zusammen; er währte dem Vernehmen nach bis tief in die Nacht. Am frühen Samstag morgen führte Gemeindepräsident Gräub die Gäste aus dem Schwabenland durch „sein" Kilchberg, zeigte ihnen das 7000 Einwohner zählende Dorf im Dunstkreis der Weltstadt Zürich zuerst vom See aus. Spätestens beim Mittagessen im Gutsbetrieb „Uf Stokken" wurde auch den Neulingen (und das waren die Tübinger) klar, mit welch gutsituierter Kommune man es zu tun hat: Um das landwirtschaftliche Anwesen (Schweinezucht, Hühner-Intensiv-Bodenhaltung und Großviehzucht) vor einer Überbauung zu bewahren, kauft's die Gemeinde - für etliche Millionen Franken.
Überliefertes zu pflegen, ist Kilchberger Art aber schon lange, denn auch der "Obere Mönchhof" wurde vor 26 Jahren durch Gründung einer Genossenschaft vor dem Untergang gerettet und der letzte Wohnsitz des Schweizer Dichters Conrad Ferdinand Meyer ist seit 1943 im gemeinsamen Besitz von Gemeinde und Kanton. Im dortigen Gartensaal, vor dem Porträt des 1898 gestorbenen Dichters skizzierte Gemeindepräsident Hans G r ä u b am späten Nachmittag mit wenigen Sätzen Leben und Werk des berühmten Kilchberges ehe er zum eigentlichen Anlaß für dieses Treffen kam. Selten, so meinte Gräub, ließen sich Beginn und aktellere Stand einer Beziehung so präzise darstellen wie die von Kilchberg-Kilchberg. Er bezog sich dabei auf einen Brief, der im Original samt Briefumschlag - für eine Drucksache ins Ausland brauchte man damals eine Zehn-Pfennig-Marke - noch -vorhanden ist.
Im April 1956 stand Richard Henne im schwäbischen Kilchberg zur Wiederwahl. Damals steckte der nicht ganz 14jährige Jochen Mohr, Sohn des Kilchberger Pfarrers, einen Wahlaufruf in den Umschlag und schickte ihn nach dem anderen Kilchberg. Wie Hans Gräub den Gemeinderatsakten entnommen hat, erhielten die Schweizer auf diese Weise erstmals Kenntnis vom schwäbischen Kilchberg. Jochen Mohr, von Ortsvorsteher Erich Krauß kurzerhand zum Ortschaftsrat ehrenhalber ernannt, saß während der Rede Gräubs neben seinem Bruder Dr. Klaus, ordentliches Mitglied des Kilchberger Ortschaftsrates. Die Duplizität der Familiennamen habe ihn, so bekannte Gräub später, zunächst irritiert, doch dann sei ihm der Krauß'sche Trick aufgegangen, mit dem dieser die Einladung an die Ortschaftsräte, Vereinsvorstände und Vertreter Tübingens (Oberbürgermeister, zwei Gemeinderäte und Universitätsrepräsentanten) „unterlaufen" habe.
Am Zürichsee fand der Brief aus dem Neckartal 1956 lebhaftes Interesse. Nachdem man einen Kundschafter ausgesandt hatte und dieser voll des Lobes aus dem Schwabenland heimkehrte, reiste der gesamte Gemeinderat unter der Führung von Gemnindepräsident Dr. Bruno Herzer an den Neckar. Man verstarnd. sich auf Anhieb - die Schweizer Kilchberger wurden privat untergebracht, die Vereine trugen, so Gräub, zum Gelingen des Treffens bei. Ein Jahr drauf ging's vom Neckar an den Zürichsee, und dann in unterschiedlichen Zeitabständen hin und her, „immer getragen von herzlicher, aufrichtiger Zuneigung, wie sie nur unter Gleichgesinnten vom selben Schlage möglich sind", wie Gräub bemerkte. „Hochgeistige Überlegungen als Grundlage für Partnerschaftskontakte, wie sie andernorts mit absoluter Berechtigung angestellt werden, haben in der Geschichte dieser Freundschaft von Dorf zu Dorf Seltenheitsiwert", fuhr der Gemeindepräsident fort. Dafür gibt's nach seinen Worten jede Menge Berichte über fröhliche, ungezwungene Volksfeste, hier wie dort. Was bei den Schweizern immer wieder Bewunderung und Anerkennung fand, war die Tatsache, daß das kleine Tübingen-Kilchberg es mehrmals schaffte,verwöhnte Schweizer in Kompaniestärke privat unterzubringen", sagte Gräub, hinzufügend, daß es Gleiches in seinem Dorf nur gegeben hat, wenn die Tübinger kamen. Ob die Lösung darin zu suchen sei, daß hier wie dort die zugeteilten Betten in vielen Fällen bestenfalls für Stunden oder - was auch vorgekommen sein soll - überhaupt nicht benützt wurden, wußte Gräub nicht zu sagen.
Trotz allen Verständnisses und aller Gemeinsamkeit war die Beziehung beider Dörfer, so Gräub, eine Zeitlang „überschattet", und zwar durch den Verlust der Souveränität des schwäbischen Kilchbergs. Enttäuschung und Resignation aber ließ die Neckartäler Feuerwehr nicht überhand nehmen, sie sorgte 1974 bei ihrem Fest für ein Wiederaufleben der Kontakte. Zwei Jahre später waren die Schweizer erneut am Neckar zu Gast, diesmal beim Brunnenfest, das mit dem Partnerschaftstreffen in Tübingen zusammenfiel und dem die Eidgenossen (weitgehend) den Vorzug gaben. Als „positive Wende" bezeichnete Gräub die 900-Jahr-Feier der Universitätsstadt: „Ungeachtet unserer milden Renitenz wurden auch wir eingeladen; eine edle Geste des nachsichtigen und menschlich großzügigen Gemeinderates von Tübingen." Danach sei er, so der Gemeindepräsident, in der Überzeugung nach Hause gereist, daß unsere Kilchberger Freunde in einer Stadt, die von Ihnen (Oberbürgermeister Dr. Eugen Schmid, die Red.) regiert wird, gut aufgehoben sind". Beim Feuerwehr-Fest im März 1980 wurde vereinbart, die Partnerschaft an ihrem 25. „Geburtstag" feierlich zu bestätigen, schloße Gräub.
Nach einem Exkurs in die Geschichte der deutschen Kleinstaaten des vorigen Jahrhunderts - wobei auch der Lübecker Kaufmanns-Sohn Thomas Mann, der seinen Lebensabend in Kilchberg/Zürich verbrachte, erwähnt wurde - meinte Oberbürgermeister Dr. Eugen S c h m i d, das Gelingen von Freundschaften hänge ebenso vom subjektiven Willen der Partner ab wie auch, wahrscheinlich sogar in höherem Maße, von Unwägbarkeiten, die von außen vorgegeben werden. Stimmungen zwischenstaatlicher Beziehungen und gewachsener Kulturen, ohne deren Kenntnis vieles unverständlich bleibe, bilden den Rahmen. Zum Schweizer Volkshelden Wilhelm Tell und dem Schiller-(Tell-)Zitat „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern" übergehend, bekannte OB Schmid, „wir Deutschen tun uns schwer mit diesem eidgenössischen Gelübde". Das sei in der geographischen Lage, der Geschichte begründet. Beide hätten dazu geführt, daß „wir historisch mehr von Urangst als von Urvertrauen geprägt" werden. „Manche behaupten, wir hätten keinen Nationalgedanken, keine nationale Identität; allenfalls seien landsmannschaftliche Bindungen und Ideale erkennbar, und selbst die nur dann, wenn wir einander in der Fremde begegnen", fuhr der Oberbürgermeister fort.
Gerade die landsmannschaftlichen Gemeinsamkeiten aber haben, so Eugen Schmid, von jeher die Schwaben und Alemannen einander besser und eher verstehen lassen als die Schwaben mit denen, die jenseits der Main-Linie leben. Schmid „personifizierte" die Gemeinsamkeit, indem er meinte, „unsere Beziehungen zu Conrad Ferdinand Meyer sind inniger als die zu Thomas Mann". Für Schmid ist die Tatsache des gemeinsamen schwäbisch-alemannischen Stammes eine gute Basis für den Bestand der Freundschaft zwischen beiden Kilchberg, die trotz politischer und natürlicher Grenzen aller Zufälligkeiten entbehre.
Den Eingliederungsvertrag Kilchberg-Tübingen zitierend, sicherte OB Schmid beiden Partnern zu, daß „in der kommunalen Praxis" der Passus, der dem Stadtteil und seinen Vereinen die Respektierung des örtlichen Brauchtums und des kulturellen Eigenlebens und seine weitere ungehinderte Entfaltung garantiert, ernst genommen wird. Diesem Gedanken trägt auch der Text der Partnerschaftsurkunde Rechnung. Und nach einem Mozart-Werk, dargeboten vom Schreiber-Quartett, unterzeichneten Gemeindepräsident, Oberbürgermeister und Ortsvorsteher die Urkunden.
Nach dem feierlich-offiziellen Teil wurde es später im „Oberen Mönchhof" familiär. Das vorzügliche Abendessen, die edlen Tropfen Schweizer Provenienzen und die Appenzeller Volksmusik lockerten die Zungen, lockten muntere Reden hervor. Nach den Dankadressen von Gemeindepräsident Gräub und OB. Schmid an Gäste und Gastgeber würdigte die Universitäts-Vizepräsidentin Professor Dr. Hanna W e i s c h e d e l die Tatsache, daß die Universität trotz der Probleme, die Tübingen mit ihr habe, in diese Partnerschaft einbezogen worden ist. Sie überreichte dem Kilchberger Gemeindeoberhaupt das Standardwerk der Universität, das zum 500jährigen Bestehen herausgekommen ist - eine Gabe, die bei den Schweizern großen Anklang fand.
Episoden - amüsante und nachdenklich-stimmende - aus den vergangenen 25 Jahren bewahrte Ortsvorsteher Erich K r a u ß vor dem Vergessenwerden. Erich Krauß ist einer derjenigen, die von Anfang an dabei waren und großen Anteil am guten Einvernehmen haben. Als „Viehzähler" war Richard G e b a u e r, Abteilungsleiter der Feuerwehr, drei Tage vor der jüngsten Schweiz-Reise im eigenen Dort unterwegs; seine Statistik wurde mit Beifall quittiert. Daß auch die Dorf-Oberen, die damals „regierten", zu Wort kamen, versteht sich von selbst: Richard Henne und Dr. Bruno Herzer verbindet seit Jahren eine enge Freundschaft. Herzer sagte, anknüpfend an das Lied vom „Guten Kameraden", beide Kilchberg hätten einen guten Kameraden und er hoffe, daß es noch lange so bleiben möge.
Ehe man sich am Sonntagnachmittag trennte, ging Dr. Klaus Mohr auf die Gemeinsamkeiten beider Kilchberg ein - es waren etliche. Hans Gräub zog Bilanz mit der Bemerkung, wenn nur ein Teil davon zutreffe, so seines immer noch viel.
Im Gartensaal des Conrad-Ferdinand-Meyer-Hauses setzt Oberbürgermeister Schmid seine Unterschrift unter die Urkunden; links neben ihm Gemeindepräsident Hans Gräub, rechts Ortsvorsteher Erich Krauß. |