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Eine Kommunistin der ganz besonderen Art

Warum Karl Marx auf Isolde Kurz schimpfte

Vor 175 Jahren, aber 100 Jahre zu früh geboren: Marie Kurz, geb. Brunow, eine politische Frauengestalt mit Widerspruchsgeist

Von Jürgen Jonas in "Schwäbisches Tagblatt", Dienstag, 7. August 2001
TÜBINGEN.
Die Zeit der Kämpfe ist herangebrochen,
es ringt der neue Geist zum neuen Licht.
Schon manche Fessel hat er kühn zerbrochen,
den Kranz der Freiheit er der Erde flicht.


In der "Esslinger Schnellpost" vom 30. Dezember 1848 finden sich diese Verse als Anfang eines langen Gedichts mit der Verfasserangabe: Marie Brunnow. Das war eine junge, mutige Frau aus Obereßlingen, 22 Jahre alt, die sich kraftvoll für die Ideale der freiheitlichen Bewegung einsetzte, als "zeitlebens glühende Demokratin‚ der Idee eines liberalen und geeinten Deutschlands verpflichtet", so Theodor Heuss in seinem Nachruf, als "eine der ersten politischen Frauengestalten im 19. Jahrhundert" im Juni 1911 starb.

Dier Rote Marie Es war nicht das einzige Gedicht, das sie schrieb, ihr umfangreicher schriftlicher Nachlass lagert im Marbacher Literaturarchiv. Aber die meisten kennen ihren Namen allerhöchstens als Randfigur der Literaturgeschichte, als Gattin des Dichters Hermann Kurz und Mutter der gleichnamigen lsolde, die ihrer in den Lebenserinnerungen liebevolldistanziert gedachte.

Gestern vor 175 Jahren wurde Eva Maria von Brunnow in der Ulmer Wengenkaserne geboren. als Tochter des Oberst August von Brunnow und der Friederike Wilhelmine von Oetinger aus dem berühmten Württemberger Geschlecht. Der Vater stammte aus den Kurlanden, wurde ausgebildet in der strengen Berliner Kadettenanstalt und soll einmal Auge in Auge dem Kaiser Napoleon Bonaparte gegenüber gestanden haben. Die kränkliche Mutter stirbt, als Marie 16 Jahre alt ist. Fünf Geschwister leben nur kurze Zeit, eine Schwester namens Ottilie wird immerhln elf Jahre alt. Der Vater, dem Militärdienst sowieso nicht sonderlich gewogen, hat sich pensionieren lassen und ein Landgut in Oberesslingen erworben, das er recht und schlecht bewirtschaftet.

Das Mädchen liest Homer und Dantes "Göttliche Komödie". Hölderlins "Hyperion", begeistert sich nach Art der Zeit für die Griechen, wächst ohne große väterliche Erziehungseingriffe und ohne nennenswerte Religionsausübung auf. Strenge Vegetarierin wird Marie, nachdem ihr im Traum ein verspeister Hase als Gerippe erscheint, das sein Fleisch zurückfordert.

Als der Vater stirbt, holt die Vorurteilslose sein uneheliches Kind ins Haus, von dem sie bis dahin nichts wusste. Es kümmert sie Zeit ihres Lebens recht wenig, was "die Leute" so denken.

Das blaue Genie

Marie verfolgt die politischen Entwicklungen mit Scharfblick. Die Beiträge und das konsequente Auftreten eines gewissen Hermann Kurz, Redakteur des oppositionellen "Beobachters"“, imponieren ihr. Trickreich macht sie sich bei einem Maskenball im Esslinger Museumssaal an den Verfasser des Romans "Schillers Heimatjahre" heran, verkleidet als "Laura", einer Figur daraus, deren Kostüm sie aus dem roten Samtmantel ihres längst verstorbenen Großonkels fertigt. Zur Heirat kommt es erst Jahre später.

"Die violette Republik" nennt man ihre Ehe: Sie bringt die roten Farbanteile, er wird seit Studientagen "das_blaue Genie" genannt. Kurz bleibt bis zum Tod mehr oder weniger erfolglos, aber sie hält ihm aufopferungsvoll die Treue, stolz darauf, die Frau eines armen Dichters zu sein. Fünf Kinder gehen aus der Ehe hervor. Permanente Geldsorgen werden mit höchster Anspruchslosigkeit bekämpft.

"Die Natur hatte sie mehr für die großen Schicksalsstunden als für den Alltag ausgerüstet", berichtet die Tochter. Sie bewältigt das Leben mit tatkräftiger Unterstützung der Josephine Peterler, die, Haushälterin der Brunnows schon in Ulm, die kleine Marie einst auf den Armen getragen hatte, eine "edle Gestalt von heroischer Treue", an deren Schulter gelehnt dann Hermann Kurz sein Leben aushauchte.

In höherem Alter verließ sie wagemutig mit der Familie Tübingen, ihre Dienste bis zum Tode auch in Italien fortführend. 33 Jahre lebt Marie unter "florentinischen Zypressen" und in Forte dei Marmi. Gestorben ist sie in München, gepflegt vom Sohn Erwin, dem Bildhauer, und Tochter Isolde, die ihr Krankenbett mit grünen Bäumchen umstellen ließ, damit sie denken möge, sie sei noch in Italien.

Tübingen finster

Vierzehn Jahre bringt die Familie, nach zahlreichen Umzügen, in Tübingen zu, als Hermann Kurz l863 eine kümmerliche Bibliothekarsstelle zugeschoben wird. Marie lief jeden Tag von der Karlstraße 13, heute Epple-Haus, den Weg zum Schloss hoch mit "etwas Fleischbrühe. Gerstenschleim oder dergleichen" im Körbchen, damit ihr Hermann in der Mittagspause schreiben konnte.

Erst in der Wohnung am Marktplatz gegenüber vom Rathaus besserte sich die Lage etwas. Doch: "Aus der kleinen Stadt, die schon so viel Große beherbergt hatte, fielen Strahlen des Geistes weit über die Lande, aber dieses Licht war nur in der Ferne wahrnehmbar, im Innern blieb es stockfinster". So schreibt Isolde, die dennoch im hohen Alter hierher zurückkehrte, über die Atmosphäre in der Stadt. "Es ging in unserem Hause so ganz anders zu als anderwärts."

Marie hatte mit dem Adel gebrochen, war aber keineswegs „geneigt, sich dafür den bürgerlichen Vorurteilen zu beugen.“ Daher die Frage, „wie ihr Erziehungsplan den lieben Nachbarn gefalle, ihre geringste Sorge" war. Allerdings: An den Vater traute sich "das Philisterium" der "Pfahlbürger" nicht heran und Mutter Marie nahm man wohl eher so, wie sie nun einmal war, wohl auch, weil man ihre Hilfsbereitschaft schätzte. Die Sprösslinge der Familie galten jedoch als "Heidenkinder" und mussten einiges an Zurückweisung erdulden und lernen, sich zu wehren.

Die rote Marie

Tochter Isolde, die sie eine "Kommunistin besonderer Art" nannte, betonte, dass die Mutter zwar den Adel der Geburt nichtig fand, auf den der Bildung aber nimmermehr verzichten mochte. Dennoch: die "Fahnenschwenkerin" gehörte zu den "eifrigsten Aposteln der Revolution" und empfing in ihrem Haushalt liebend gerne ebensolche. Etwa den Lehrer Adolf Bacmeister, der aus dem Stift geflohen war, sich den Herweghschen Freischärlern anschloss und für Marie das „Rothe Album" anfertigte, das. "triefend von "Tyrannenblut", seinen Namen in jeder Hinsicht verdient, wie man sich im Reutlinger Stadtmuseum überzeugen kann. Und da ist der Gründer des "Eulenspiegel", Ludwig Pfau, der 21 Jahren Zuchthaus durch die Flucht entgeht. Oder der Mediziner Edouard Vaillant, der in Tübingen seine Kenntnisse verbessern will. Er ist Anhänger des Franzosen Louis Blanqui, eines utopischen Kommunisten, und, im Gefolge seines Meisters, der 36 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte, immerzu damit beschäftigt, Instruktionen für den Aufstand zu ersinnen und praktisch für den Umsturz zu wirken. Am Marktplatz ist er Gast der Familie. Während zweier längerer Aufenthalte in Tübingen funktioniert der gewiefte Agitator gesellige Runden zu revolutionären Debattierclubs um. Ganz im Sinn Maries. Schon in der Kindheit hatte sie "sozialistische Regungen", die Ideen von Achtundvierzig schienen ihr „eingeboren.“ Hella Mohr, 2003

Tagebuch und Briefe

Aber es blieb nicht bei der Idee: In der "Tübinger Chronik" vom 28. Juli l869 findet sich ein "Aufruf zur Unterstützung der notleidenden Juden an der russischen Grenze", initiiert vom Kaufmann Leopold Hirsch und "Frau Dr. Kurz im Hause des Conditors Voigt am Markt." In der Geschichte von Hermann und Marie taucht wiederholt der Name des Ehinger Pfarrers Heinrich, August Gottlob Mohr auf, der mit der Tübinger Buchdruckerstochter Friederike Schramm verheiratet war, einer Tante von Hermann Kurz. Die Tübingerin Hella Mohr ist eine Nachkommin und somit auch „weitläulig" mit der Familie Kurz verwandt. Die 1935 geborene Altenpflegerin, die noch immer ehrenamtlich im Luise-Wetzel-Stift mitarbeitet, kümmert sich seit fünf Jahren mit großem Fleiß und heiteren Geistes um die Kurzens, reist auf Ihren Spuren, ob nach Bad Liebenzell oder Florenz, fotografiert, sammelt und stellt einfallsreich Verbindungen zwischen Personen und Schriften her.

„Das Gehirn muss jung bleiben" meint sie. Ein Theaterabend am LTT` über die eheliche Beziehung von Hermann und Marie wäre ohne ihre Arbeit nicht zustande gekommen. Sie wurde nach einer Kurz-Führung in Reutlingen, Stammgast im Marbacher Literaturarchiv. Zunächst mit einem Bleistift, dann mit einem Laptop ausgerüstet, entzifferte sie in mühevoller Kleinarbeit die Tagebücher und Gedichte der Marie Kurz, die nun in mehrere dicke Bände gebunden vorliegen und der Entdeckung durch einen Verleger harren.

Der umfangreiche Briefwechsel vor allem mit Maries Jugendfreundin Marie Caspart harrt wissenschaftlicher und sonstiger Auswertung. Zurückhaltend lässt die Marien-Verehrerin Hella Mohr ins Gespräch einfließen, dass sie auch an einem Roman mit der "Kämpfernatur als Hauptperson arbeitet. Der Tübinger Arzt Dr. Gärttner, so wird überliefert, sagte öfter zu Marie Kurz: "Sie leben Ihrer Zeit um fünfzig Jahre voraus." Hella Mohr geht das nicht weit genug. Marie ist, sagt sie, "mindestens um 100 Jahre zu früh geboren. Heute wäre sie sehr wahrscheinlich eine Art Renate Künast, die mit Feuereifer für ihre Sache in den Kampf zieht. Man müsste mehr solcher Frauen haben."
Schwäbisches Tagblatt, 07.01.2011, Wilhelm Triebold

Holde Isolde

Warum Karl Marx auf Isolde Kurz schimpfte

Was können sie schon gemeinsam haben, der Weltrevoluzzer und die Schriftstellerin? Karl Marx kannte Isolde Kurz zwar nicht persönlich, hatte gleichwohl mit ihr zu tun.

Eine Arabeske der (Literatur-)Geschichte, gewiss, aber sie soll hier doch wenigstens kurz erwähnt werden. Isolde Kurz war 1877 knapp 24 Jahre alt, hatte keinen Tag die Schule besucht und Tübingen gerade hinter sich gelassen. In ihrem Gedicht „Abschied von Tübingen“ wirft sie der Stadt ihre als zwiespältig empfundenen Jugendjahre vor: „Der Abschied löst den Bann vom Munde, Drum eh ich fern ans Ufer stieg, Laß jetzt in dieser Trennungsstunde Dir sagen, was ich lang verschwieg: Du hast vom Baume meines Lebens

Die schönsten Blüten früh geknickt.
Der Jugend Lust, die Kraft des Strebens
In meiner jungen Brust erstickt.“

Das klingt nicht gerade nach einer unbeschwerten Kindheit, wie sie Hermann Kurz‘ Töchterlein aus dem väterlichen Fachwerkhaus am Markt (dem heutigen „Ranitzky“) sehnsüchtig auf die Stöfflersche Rathausuhr starren ließ. „Der Vorzeit graue Steine“ und den „hundertjähr‘gen Moder“ mochte sie am philisterhaft verschnarchten Tübingen verabscheuen. Bereits die heute selbstverständliche Anregung der selbstbewussten jungen Dame, in der Badeanstalt einen Wochentag nur den Frauen zu reservieren, verschreckte die hiesigen Mitbürger zutiefst. Vater Hermann Kurz, ein Radikaldemokrat bester Güte, verschied im Jahr 1873, weil er sich bei der Einweihung des Uhlanddenkmals einen Sonnenstich einfing. Tod und Grab beschäftigen die Tochter danach so sehr, dass sie den gedichteten „Abschied von Tübingen“ dann doch versöhnlicher enden lässt: „Und kehr ich einst mit müden Flügeln, Wenn meine Bahn ein Ende hat Dann gönne bei des Vaters Hügel, Der Tochter eine Ruhestatt!“

Doch erst einmal ging‘s hinaus in die Welt, nach München und später für lange Zeit nach Italien. Die recht sprachbegabte Isolde – sie beherrschte, im Hausunterricht antrainiert, neben Englisch, Französisch, Italienisch und Russisch auch Latein und Griechisch – versuchte sich an Übersetzungen, und ihr erstes nennenswertes Übersetzungshonorar (1000 Gulden) investierte sie postwendend ins Grabmal des Vaters auf dem Tübinger Stadtfriedhof. In dessen Nähe wurden dann später auch die Mutter und sie selber beigesetzt. Noch einmal kam Isolde kurz nach Tübingen, als sie im August 1877 beim Uni-Jubiläum zum 400. Stiftungstag auf den herzoglichen Wagen als musenhaft anmutende Amazone vier störrische Rösser durch Tübingens enge Gassen lenkte. „Kein anderes Mädchen hätte dies vermocht“, staunte Biografin Hella Mohr noch viel später. Doch Isolde Kurz, deren libertäres Elternhaus mit seinen „jakobinisch angehauchten Sezessionen“ (so Inge Jens) sie zwar nicht zur Frauenrechtlerin oder Revolutionärin, doch aber zu einer eminent erfolgreichen Schriftstellerin werden ließ, begann ihre Karriere als Übersetzerin. Und hier kommt nun Karl Marx ins Spiel. Der hatte im Londoner Exil einen französischen Neo-Jakobiner namens Prosper-Olivier Lissagaray angehalten, aus eigener Erfahrung die Tage der Pariser Kommune aufzuschreiben, obwohl Lissagaray hinter Marx‘ Rücken mit dessen Tochter Eleanor anbandelte. Nun wurde jemand gesucht, um Prosper-Olivier Lissagarays Manuskript ins Deutsche zu übertragen. Und in Isolde Kurz gefunden. Karl Marx‘ Kommentare in fünf Briefen an einen Freund und Kollegen sind nun allerdings wenig schmeichelhaft ausgefallen, was die sprachliche Kunstfertigkeit der Auftragsarbeiterin angeht: „Im ganzen ist die Übersetzung, wo sie nicht direkt falsch ist, oft unbehülflich, philisterhaft und ledern“, ätzt Marx. „Doch dies mag vielleicht gewissermaßen deutschem Geschmack entsprechen.“ Im Oktober 1877 platzt Redakteur Marx endgültig der Kragen. An Briefpartner Wilhelm Bracke schreibt er: „Ich habe Ihnen schon verschiedenmal angedeutet, die holde Isolde an die Luft zu setzen. Mit aller Korrektur bleibt das Produkt derselben ein Abortus. Dazu die Zeitvergeudung, die Kostenverschwendung etc. Juristisch kann dem ‚an die Luft setzen‘ kein Hindernis im Weg stehn, da die Person nicht leistet noch leisten kann, wozu sie kontraktlich verpflichtet ist.“ So endet die kurze Beziehung zwischen Karl Marx und Isolde Kurz, bevor aus ihr eine wunderbare Freundschaft erwachsen konnte. Im Alter von 90 Jahren, krank, schwach und von den herrschenden Nazis hofiert, kehrt Isolde Kurz schließlich in ihre Vaterstadt zurück. Das Hermann-Kurz-Grab auf dem Stadtfriedhof wurde mittlerweile generalüberholt und sandstrahlt nun in neuem Glanze.