Klaus Mohr     Musikalisches     Stephanuschor

Aus A. Feil, Metzler Musik-Chronik, 2. Auflage 2005, S. 671 f
MUSIK ZWISCHEN ETWA 1890 UND ETWA 1920 - DATEN

1908 Charles Ives (1874-1954):

Orchesterwerk „The Unanswered Question

Aus A. Feil, Metzler Musik-Chronik, 2. Auflage 2005, S. 671 f MUSIK ZWISCHEN ETWA 1890 UND ETWA 1920 - DATEN 1908 Charles Ives (1874-1954): Orchesterwerk „The Unanswered Question ...... Ives Werke entstehen zwischen 1887 und 1928……..

Das wohl bekannteste Werk von Ives, The Unanswered Question (1908; Uraufführung New York 1941), versteht Bernstein (1976) so - und wir schließen uns ihm direkt an:

...1908 also gibt Schönberg den Kampf um die Bewahrung der Tonalität auf, den Kampf um die Bändigung der nach-wagnerischen Chromatik. Im selben Jahr schreibt er sein Zweites Streichquartett, das offen Auflehnung verkündet, die Absage an die Tonalität. Im letzten Satz dieses Quartetts greift er auf eine menschliche Stimme zurück, einen Sopran, der Stefan Georges prophetische Worte singt: >Ich fühle Luft von anderen Planeten<. Schönberg fühlte diese Luft tatsächlich, und wir fühlen sie auch... Das ist Atonalität (um dieses gräßliche und häufig mißverstandene Wort zu verwenden); nicht die Atonalität der Ganztonleiter Debussys, die stets in tonalen Schranken war. Diese Atonalität kennt keine Schranken mehr, weder diatonische noch andere: auf Gedeih und Verderb hat nichttonale Musik das Licht der Welt erblickt. Die Musikgeschichte ist einem Gezeitenwechsel unterworfen worden. -

Aber im selben entscheidenden Jahr 1908 wurde weit weg von all dem - einen Kontinent und einen Ozean entfernt, ausgerechnet in Connecticut - die schonungsloseste Bemerkung, der schärfste Kommentar zur Krise der Tonalität von einem ungehörten, ungeehrten und ungespielten Sonntagskomponisten namens Charles Ives gemacht. Auch er war ein Wissender. Auch wenn er keine Ahnung von Schönberg oder irgendeiner Auflehnung in Wien hatte, wußte er, daß etwas im Kommen war, und verkündete es auf seine halb scherzhafte, mystische, eigenartige Weise in einem wundervollen kleinen Stück, das er >Die offene Frage< nannte. Diese Musik sagt alles und mehr, als tausend Worte vermöchten; sie ist eine beinahe graphische Darstellung dieser Auseinandersetzung. Natürlich ist die Frage, die Ives im Titel des Stückes anführt, nach seinen eigenen Worten keine im engeren Sinn musikalische, sondern eine übersinnliche. Ich möchte aus einem erklärenden Vorwort zitieren: >Die Streicher spielen ohne Tempowechsel durchlaufend pianissimo. Sie stellen das >Schweigen der Druiden< dar, die >nichts wissen, nichts sehen, nichts hören<. Die Trompete intoniert >Die ewige Frage des Seins< und stellt sie jedes Mal im selben Ton, mit gleicher Stimme. Aber die Jagd nach der >unsichtbaren Antwort< wird von Flöten und anderen Menschenwesen [typisch für Ives' kauzigen Humor] bestritten, sie wird immer drängender, schneller und lauter... [Diese] kämpfenden Beantworter spüren allmählich... eine Sinnlosigkeit heraus und fangen an, >die Frage< zu verspotten - der Kampf ist vorläufig beendet. Nach ihrem Verschwinden wird >die Frage< ein letztes Mal gestellt, und darüber ist das >Schweigen< in >regungsloser Einsamkeit< zu hören.< Und Bernstein weiter: >Ein schöner Einfall, naiv und tief zugleich. Aber ich habe Ives' >offene Frage< weniger als eine übersinnliche aufgefaßt denn als eine im engeren Sinn musikalische: >Musik - wohin - in unserem Jahrhundert?<

Ich möchte Ihnen das Stück noch einmal erklären, doch diesmal in ausschließlich musikalischen Begriffen. Es gibt drei Elemente im Orchestern die Streicher, die Sololotrompete und ein Holzbläser-Quartett. Die Streicher spielen tatsächlich >ohne Tempowechsel durchlaufend pianissimo<, wie Ives es beschreibt, aber wichtiger als alles über die Druiden ist, daß sie in reinen tonalen Dreiklängen spielen. Und vor diesem langsamen, gehaltenen, rein diatonischen Hintergrund stellt die Trompete von Zeit zu Zeit ihre Frage - eine unbestimmte, nicht-tonale Phrase; und jedes Mal antwortet die Holzbläser-Gruppe in ähnlich unbestimmter, gestaltloser Art. Die Wiederholung der Frage ist mehr oder weniger stets gleich, aber die Antworten werden immer vieldeutiger und hektischer, bis die letzte Antwort in einem totalen Kauderwelsch endet. Aber die Streicher haben durchlaufend und unbeirrbar ihre diatonische Gelassenheit beibehalten; und wenn die Trompete ihre Frage >Musik - wohin?< zum letzten Mal stellt, erklingt keine weitere Antwort, nur die Streicher verlängern in aller Ruhe ihren G-dur-Dreiklang in die Ewigkeit. - Ist dieser strahlende Schluß-Dreiklang die Antwort? Ist Tonalität ewig, unsterblich? Viele haben es geglaubt, und manche glauben es noch immer. Und dennoch hängt die Frage der Trompete in der Luft, unaufgelöst und unsere Ruhe störend.

Sehen Sie, wie klar dieses Stück das Dilemma des neuen Jahrhunderts schildert? ...<