Klaus Mohr
Der Schatz des Vaters stand im Keller Drei Autos und drei Telefone
Schwäbisches Tagblatt 21.10.2017
Gast der Woche
Mit liebender Strenge
Die Kilchberger Ortschronist
Klaus Mohr hat seine abschließenden Projekte geplant. Der 75-Jährige spricht
auch über seinen Lehrer-Beruf, wer ihn prägte
und warum er die
Adelsbezeichnung ablehnt.
21.10.2017
Von Moritz Hagemann
Bild: Metz
Auf dem Tisch in der TAGBLATT-Redaktion hat Klaus Mohr seine Stammbäume aus Kilchberg ausgepackt.
Es sind mehrere Jahrzehnte, in denen Klaus Mohr
fast alles gesammelt hat, was es über Kilchberg zu erfahren gibt. Besonders die
älteren Familien aus dem Ort kennt er aus dem Effeff. Durch Gespräche mit
Zeitzeugen, rund 6000 Bilder und etliche Stammtafeln, die der 75-Jährige
zusammengefügt hat. Aber: „Wen interessiert das schon noch?“, fragt er mit
Wehmut in der Stimme. „Im Dorf sterben die Leute langsam aus.“ Keine einfache
Situation, sagt er. Das mache nachdenklich, wenn immer wieder Menschen sterben,
die er kenne.
Der Historiker und Genealoge hat nach wie vor Spaß an der Recherche und dem Erhalt der Geschichte. Seine Ausstellung in der Dorfscheune hätten zuletzt etwa 150 Leute besucht. „Ich war zufrieden damit“, sagt er. Jeden Tag, so erzählt er, setzt er sich gegen 8.30 Uhr an seinen Computer und arbeitet – obwohl er seit elf Jahren im Ruhestand ist. Mittags kocht er und gönnt sich ein Schläfchen, „bei gutem Wetter bin ich auch gerne in meinem Garten“, sagt er.
Mohr genießt sein Leben. Das könne der Pfarrerssohn, weil er von größeren Krankheiten verschont geblieben ist. „Christlich gesprochen ist das eine Gnade“, sagt der 75-Jährige. Seine Frau verstarb schon 1994, Mohrs neue Partnerin lebt in Derendingen. Alleine fühlt er sich trotzdem nicht: dank der Arbeit und vor allem seines Zwillingsbruders Jochen, „mein bester Freund“, wie Klaus Mohr sagt. Sie telefonieren regelmäßig, spielen gemeinsam Tischtennis und selbst die Mutter habe beide am Telefon nie auseinander halten können.
Beide teilten sich auch den Beruf: Klaus Mohr war Lehrer für Latein, Geschichte und Geographie. Als er noch selbst am Tübinger Uhland-Gymnasium die Schulbank drückte, habe ihm sein Geschichtslehrer Eberhard Krauß imponiert: „Er hat mich begeistert, weil er sich auch nicht gescheut hat, die heiklen Themen anzusprechen.“ Sich selbst beschreibt Mohr als Lehrer mit „anstrengender Liebe oder liebender Strenge“. Das sei offenbar ganz gut angekommen.
Zuletzt habe ihn in einem Café ein ehemaliger Schüler angesprochen. „Den habe ich bestimmt 30 Jahre nicht gesehen.“ Der Schüler habe ihn an der Stimme erkannt, sagt Mohr, „und er hat gesagt, wenn er mich damals nicht gemocht hätte, hätte er mich auch nicht angesprochen.“ Immer am Buß- und Bettag hat er auch ehemalige Schüler zu einer Feier zu sich nach Hause eingeladen. 20 bis 30 seien immer gekommen.
Insgesamt hat Mohr zwei Brüder und vier Schwestern, die mit einer Ausnahme alle studierten. Eine Schwester lebt nahe Porto Alegre in Brasilien, vor neun Jahren hat er sie mit dem Zwillingsbruder einmal besucht. Generell gelte aber: „Urlaub am Strand ist nichts für mich.“ Was sich wie ein roter Faden durch die Familie zieht, ist nicht etwa die Begeisterung für die Historik, sondern für die Musik. Der 75-Jährige selbst ist beim Stephanuschor dabei und spielt auch noch Waldhorn. „Musik ist ganz wichtig für mich“, sagt er. „Die beruhigt das Leben.“ Mohr bevorzugt die klassischen Werke, von Bach über Mozart hinein in die Spätromantik. Und Chormusik. „Das hält mich auch ein bisschen jung“, sagt der vierfache Vater. Wie auch das E-Bike-Fahren.
Seine Begeisterung für die Historik und Genealogie hat ihm sein Vater vererbt: Hermann Mohr de Sylva – ein Name, der seit 1832 für den Adel steht. Aber: „Ich bin nicht adlig und fühle mich auch nicht so“, sagt Klaus Mohr, obwohl in seiner Geburtsurkunde ebenfalls Mohr de Sylva steht. Der Vater, der die Familie 1950 nach Kilchberg gebracht hatte, habe durchaus gezeigt, dass er ein wichtiger Mann war. „Er hat damit ein bisschen angegeben“, sagt Mohr. Das liege ihm selbst fern. Der 75-Jährige wirkt auch bodenständig und nennt die Nächstenliebe als wichtigen Baustein seines Lebens. So kümmert er sich unter anderem um erkrankte Verwandte.
Bereits als 13-Jähriger bekam Mohr einen Rollfilm zur Konfirmation und machte Bilder von Kilchberg – mit 17 kaufte er sich seine erste Dunkelkammerausrüstung. Finanziert mit dem Stundenlohn von 1,49 D-Mark bei einem Bauunternehmen. Über die Jahre hat sich sein Aufgabengebiet verändert. Musste er früher ins kirchliche Archiv nach Möhringen fahren, kann er heute über den Computer und das Internet recherchieren. Auf seine Arbeit habe sich die Digitalisierung positiv ausgewirkt, sagt er. „Ich habe Zugang zu ganz anderen Dingen.“ Eine Internet-Plattform hat er auch aufgebaut, von Sozialen Medien hält sich Mohr jedoch fern.
Als 2015 der Hirsch in Kilchberg wiedereröffnete, fand er zum Beispiel heraus, dass die jetzige Pächterin mit dem ersten Pächter von 1790 verwandt ist. Was ihn an der ganzen Arbeit reize? „Das ist schlicht Heimat für mich“, sagt Mohr. „Und es macht mir einfach Spaß.“ Vor allem will er auch etwas erhalten. Denn die Geschichte könne von der jüngeren Generation immer schwerer erarbeitet werden – die Sütterlinschrift sei da oftmals ein Problem.
Wie lange er noch die Kilchberger – und auch Weilheimer – Geschichte hinterfragen möchte, das hat Mohr im Blick. Seine beiden Bücher über Kilchberger Familien und Ortsgeschichte sollen zeitnah herauskommen. All seine Bücher hat der 75-Jährige nach ähnlichem Muster gestaltet: „Mein Stil ist, dass ich immer trockenen Text mit Bildern bereichere. Da haben selbst Reigschmeckte dann was davon.“ Geplant hat er noch ein zweites Familienbuch, in denen er die Kilchberger Stammtafeln aufzeigen möchte. „Dann ist wahrscheinlich Schluss für mich.“
Mit einer Ausnahme: Ein Buch über die eigene Familie will er noch machen. Denn die eigenen Kinder teilen seine Begeisterung nicht. „Da hab’ ich das Gefühl: Wenn ich mal nicht mehr bin, kommt’s in den Container“, erzählt Mohr. Deshalb will er seine Zeitzeugnisse in Museen oder Archiven unterbringen. Erste Gespräche hat er schon geführt.
Zur Person
Klaus Mohr
Kilchberger Ortschronist
1942 geboren in Creglingen
1962 Abitur am Tübinger Uhland-Gymnasium
bis 1969 Studium in Tübingen, Wien und Kiel
ab 1970 Lehrer am Tübinger Kepler-Gymnasium, vorher Referendariat und Promotion
ab 1982 Aufbau des Tübinger Carlo-Schmid-Gymnasiums
von 1995 bis 2006 Schulleiter in Haigerloch
seit 1986 Ortschronist von Kilchberg
Schwäbisches Tagblatt 8.11.2017
Der Schatz des Vaters stand im Keller
Das Radfahren lernten Klaus Mohr und seine Geschwister auf dem Drahtesel ihrer Mutter.
Doch das „Hercules Modell 71“ des Vaters hat für sie bis heute eine besondere Anziehungskraft.
Mohr ließ das Fahrrad seines Vaters Heinrich Mohr de Sylva von Michael Faiss reparieren und pflegen.
So steht es heute da.
Privatbilder
Lange stand es unbeachtet im Keller. Gammelte unter dem Haus von Klaus Mohr in Kilchberg vor sich hin. „Wegwerfen wollten wir es nicht“, sagt der ehemalige Lehrer und Historiker über seine und die Gefühlslage seiner Geschwister gegenüber dem alten Drahtesel. Über Jahre blieb es beim Wunsch, das alte „Modell 71“ der Marke Hercules wieder herzurichten.
Dann gab es ein Gespräch mit dem Weilheimer Fahrrad-Begeisterten und -Museumsbetreiber Michael Faiss. Und einen Auftrag für ihn. Mohr, der sich als Landesgeschichtler bezeichnet und sehr an der Ortshistorie von Kilchberg und Weilheim interessiert ist, wollte dem Rad nicht länger beim Einstauben zusehen. „Monatelang schraubte Faiss in seiner Freizeit am Fahrrad herum – raus kam ein Prachtexemplar“, berichtet Mohr stolz. Seitdem wurde das Zweirad immer wieder in der Weilheimer Fahrradkirche ausgestellt.
Der Historiker Mohr arbeitete, während Faiss das Rad wieder fit machte, die Geschichte des Gefährts auf. Es ist eine bewegte Geschichte über alltägliche Bewegung mit diesem Rad – bevor das Autofahren allgegenwärtig wurde. Als es kaum eine andere Möglichkeit gab, um von A nach B zu kommen. Das Fahrrad ist für Mohr heute wie eine Quelle aus der Vergangenheit, irgendwo zwischen Familienerbstück, Zeitzeugnis und Kollektiverbstück der Kirchengemeinden der benachbarten Teilorte Weilheim und Kilchberg.
Es handelt sich um das alte Fortbewegungsmittel des evangelischen Pfarrers Heinrich Mohr de Sylva, Klaus Mohrs Vater. „Es war, als mein Vater 1950 die Pfarrstellen Weilheim und Kilchberg bekam, seine einzige Fortbewegungshilfe, um in seine Predigtorte zu kommen“, berichtet Mohr. Die Kirche in Weilheim, die der Vater betreute, ist jene, in der das restaurierte Rad heute immer wieder ausgestellt wird.
Vor dem Zweiten Weltkrieg besaß Mohr de Sylva einen Opel: „Doch der wurde ihm 1939 weggenommen.“ Autos waren dann – direkt nach dem Zweiten Weltkrieg – extrem selten. „In Kilchberg gab es zu dieser Zeit gerade mal drei kleine Dreiräder-Autos“, sagt Mohr. Es sind diese kleinen Details, für die er sich interessiert und die auch die Geschichte des Rads seines Vaters lebendig werden lassen. Und sie sagen ihm viel über Mobilität nach dem Zweiten Weltkrieg. Lange vor den Plänen für eine Regionalstadtbahn oder selbstfahrende Elektroautos. Wann genau das Fahrrad in den Familienbesitz kam, vermag Mohr heute nicht zu sagen. Gebaut wurde es vermutlich 1923. Und für Mohr und seine sechs Geschwister hatte es, während sie aufwuchsen, seit jeher eine „große Anziehungskraft. Wir durften es warten“, sagt Mohr. Und manchmal aus dem Dreck ziehen, wenn der Vater am Morgen auf dem Feldweg zwischen Weilheim und Kilchberg im Schlamm steckengeblieben war. Und schnell zum nächsten Gottesdienst musste: „Bei Nässe war das ein katastrophaler Weg“, sagt Mohr.
Sein Vater hatte neben Kilchberg und Weilheim auch die katholischen Filialorte Bühl und Hirschau zu betreuen. „Dort gab es nur wenige Protestanten, aber hinfahren musste er trotzdem“, so Mohr. Mit dem Dienstgefährt des Vaters fahren durften Mohr und seine Geschwister damals selten. Bis zu einem gewissen Alter war schon das Aufsteigen eine Herausforderung: „Man musste mit dem linken Fuß auf eine Querstrebe an der Hinterachse.“ Von dort konnte man sich auf den Sattel schwingen, erinnert sich Mohr: „Solche Versuche führten oft zum Sturz.“
Mohr und seine zwei Brüder und vier Schwestern lernten das Radeln auf dem Damenrad ihrer Mutter. „Viel bequemer zum Einsteigen“, sagt Mohr. Und doch behielt das „Modell 71“ ihres Vaters eine bestimmte Wirkung. „Es war ein besonderes Lustobjekt.“ Der Anziehung gegenüber stand die Abhängigkeit des Vaters vom Rad als Fortbewegungsmittel: „Er hat immer geschimpft, wenn wir es nicht sorgfältig behandelten.“
Zur Wartung, die die Töchter und Söhne für ihren Vater übernahmen, gehörte auch die eine oder andere technische Erweiterung im Laufe der Jahre: „Als es dann Rücklichter zu kaufen gab, haben wir ihm die Kabel an der Stange entlang gelegt“, erinnert sich Mohr. Noch etwas später kamen dann Pedale mit Katzenaugen hinzu: „Daran habe ich noch sehr lebendige Erinnerungen. Mit sehr viel Mühe haben wir ihm diese Dinger angebracht.“
Auch das präzise Einstellen der Nabenschaltung war Aufgabe der Pfarrerskinder. Denn Vater Heinrich war „äußerst jugendbewegt“ und ständig unterwegs. „Er ist viel über Land gefahren. Heute ist das schwer vorstellbar, wie wichtig dieses Fahrrad für ihn war.“ Deshalb ist Mohr froh, dass es im Keller die Zeit überdauerte.
Auf dem Fahrrad der Mutter – ohne eine Querstange deutlich leichter zu besteigen – lernten
Klaus Mohr und seine Geschwister radfahren.
Pfarrer Heinrich Mohr de Sylva
Schwäbisches Tagblatt 12.08.2017
Ortsgeschichte
Drei Autos und drei Telefone
Klaus Mohr forscht über Kilchberg und hat den Stammbaum jeder der ungefähr vierzig Familien erfasst.
Foto: Carolin Albers
Der pensionierte Lehrer Klaus Mohr ist nicht nur Hobby-Dorfhistoriker, sondern auch Genealoge.
Mehrere vier Meter lange Papierrollen zu den einzelnen Stammbäumen von Kilchbergern lagen bei einer
Ausstellung in der Dorfscheune aus.
Was macht man im Ruhestand? „Man versauert oder man beschäftigt sich mit etwas“, sagt Klaus Mohr. Seit elf Jahren forscht der pensionierte Schulleiter als Dorfhistoriker zur Kilchberger Geschichte. 5000
Fotos hat er gesammelt und einige Bücher über Kilchberg geschrieben. Mit Bildern und Texten präsentiert er das Dorfleben von früher.
Außerdem sind da noch zwölf Zeitzeugen-Berichte zum Anhören auf CD. „Die hab ich schwäbisch schwätza lasse“, sagt der 75-Jährige. So erzählt ein Bäcker zum Beispiel, dass er jeden Tag von Stockach nach Tübingen gelaufen ist in seiner Bäckerlehre. Viel Material hat Klaus Mohr zudem von der 750-Jahre-Kilchberg-Feier, die 1986 ausgerichtet wurde.
Dafür befragten Grundschüler Zeitzeugen. „Kilchberg war ein armes, bäuerliches Dorf“, sagt Klaus Mohr über die Zeit vor dem Wirtschaftswunder. Drei Autos und drei Telefone habe es in ganz Kilchberg gegeben. Mit einem dieser Telefone rief Klaus Mohr die Tübinger Feuerwehr, als es 1960 in Kilchberg brannte. Obwohl es im Ort selbst auch eine Feuerwehr gab, doch die Tübinger war schneller da. Schließlich hat man damals Alarm geschlagen, indem man fahrradfahrend mit der Trompete Laut gab.
Es ist nur eine von vielen Geschichten, die Klaus Mohr erzählt. An seinen Kindern und Enkelkindern sieht er, dass sie die damalige Zeit gar nicht mehr verstehen können. So nennt er als Beispiel, dass seine Enkelin mit drei Jahren bereits ein Fahrrad besitzt, er hingegen mit 14 Jahren zur Konfirmation sein erstes bekam.
Die Kilchberger Dorfscheune füllte er vor kurzem mit seinen Arbeiten – beziehungsweise einem Bruchteil seiner Arbeit, wie er sagt. Gerade mal fünf Prozent seiner Bilder präsentierte er dort. Fotos sind Klaus Mohr wichtig: „Wenn die Leute Bilder anschauen, lesen sie auch die Texte.“
Neben Plakaten mit Fotos lagen mehrere vier Meter lange Papierrollen zu den einzelnen Stammbäumen von Kilchbergern aus. Klaus Mohr ist nicht nur Hobby-Dorfhistoriker, sondern auch Hobby-Genealoge.
Ein gebrochener Fuß und die daraufhin verordnete Bettruhe brachten ihn dazu. Bis zum Jahr 1191 zurück hat er seine eigene Familie aufgearbeitet. Inzwischen hat er alle alten Kilchberger Familien – etwa vierzig – in seinem PC erfasst. Die Daten hat er aus Kirchenbucheinträgen, Tauf-, Toten-, Familien- und Ehebüchern. Wenn ein Besucher in die Dorfscheune kommt und nach seinen Vorfahren fragt, wirft Klaus Mohr den jeweiligen Stammbaum per Beamer an die Wand.
Seine Hobbys passen zu seinem früheren Beruf: Als Lehrer unterrichtete er am Kepler- und Carlo-Schmid-Gymnasium Latein, Geschichte und Geographie. Ab 1995 war er Schulleiter in Haigerloch. Seine vier Kinder und seine Enkel wohnen alle in der Nähe.
Seit 67 Jahren lebt Klaus Mohr nun schon in Kilchberg – und vermutlich kennt keiner die Vergangenheit des Fleckens so gut wie er: „Negativ könnte man sagen, ich bin ein rückwärtsgewandter Mensch. Aber zum Wohle der Menschheit.“