„Zeuch deine Schuhe aus, denn der Ort, darauf du stehst, ist ein heilig
Land!” Mit diesem Bibelwort möchten wir aufrufen zur frommen Einkehr in der
Herrgottskirche zu C r e g l i n g e n. Fränkische Edelherren, die Grafen von
Hohenlohe, haben sie als Wallfahrtskirche im Jahre 1384 gestiftet, dem
„Herrgott", ihrem Heiland, zu Ehren, und sich selbst zum ewigen Heil. Aus
ureigenstem frommen Antrieb sind unsere fränkischen Vorfahren zu Zehntausenden
zu ihr gepilgert, und noch heute führt der „Wallweg" von der Laudenbacher
Bergkirche, die Mörike besungen hat („0 liebste Kirche sondergleichen"),
übers „Handbuch" durch das „Bettäle", am „Greinberg" vorbei über den
„Herrgottsbach" zur „Herrgottskirche". Zehntausende durchzogen
betend die Kirche, von Seitenportal zu Seitenportal, um am „untern Altar" vor
dem Allerheiligsten, dem „Herrgott", ihre Andacht zu verrichten. Dann standen
sie unter der Außenkanzel, fälschlich „Tetzelkanzel" genannt, um durch den
Segen der vorgezeigten Reliquien und der Predigt neugestärkt zum Alltagswerk
zurückzukehren.
Wenn nun heute wieder Pilger von nah und fern (1958 waren es rund
hunderttausend) aus künstlerischem und geschichtlichem Interesse in unserer
Herrgottskirche einkehren, so mögen sie bedenken, daß sie nicht in ein Museum
kommen mit Sehenswürdigkeiten, die von überall her zusammengetragen wurden,
sondern in ein aus der Frömmigkeit unserer Vorfahren bodenständig
geschaffenes Heiligtum. Aus den Altären, Tafeln, Kruzifixen, Skulpturen,
Glasfenstern und Grabsteinen redet der fromme Sinn eines Riemenschneider, Veit
Stoß, Michel Wolgemut, Jakob Mülholtzer, Michel Niklas und vieler anderer
fränkischer Meister zu uns. Mögen die heutigen Wallfahrer auch von deren
Geiste noch einen Hauch verspüren und aus frommer Betrachtung Kraft zu neuem
Wirken schöpfen!
Wir Creglinger aber wallen auch jetzt noch zu unseren Gottesdiensten und
Leichenpredigten hinaus zur Herrgottskirche, wo im stillen, mauerumfriedeten
Gottesacker unsere christlichen Ahnen ruhen, die einst hier gebetet haben, wie
wir es heute tun. Außen ringsum an der Kirche sind die Verlockungen der Welt
zum Abscheu der frommen Christengemeinde festgebannt: Götzen und Geister,
Fratzenteufel und Gemeinheiten, Sonnen-, Mond- und Windgott an der
„Tetzelkanzel", der einäugige Wotan, der Fenriswolf und die Welteidechse,
ein Saufteufelchen, ein Zweifelsteufel an der Dachrinne, die wilden
Wasserspeier u. a. m. Unbehindert durch sie alle treten wir zwischen
„Zweifel" und „Streit" links und rechts des Eingangsportals hinein in das
Innere der Kirche, wo die Heiligtümer unserer harren.
Im gotischen Helldunkel umgibt uns das seltene gotische Tonnengewölbe
des Schiffes. Es reden zu uns die Totenschilder der drei Stifterherren
Hohenlohe (um 1400) und eine Fülle von alten Grabmälern.
Gedämpftes Licht
fällt durch die alten, bunten Glasfenster mit ihrem wundersamen Blau und Rot
(z. B. Christus, der Fürst des Lebens, am Kreuz, das zur Lebensrune und zum
Lebensbaum wird). Links erhebt sich der alte Niederländer Altar von 1470
und
rechts der Heiligenaltar von Jakob Mülholtzer mit der wundervollen
Marienverkündigung aus dem Jahre 1496.
Wir blicken auf zu dem schönen
seitlichen und dein wundervollen friedlichen Kruzifix am Triumphbogen.
An
diesem vorbei treten wir hinauf zu dem hohen Chor mit seinem
Riesenchristophorus,...
...seinem gotischen Chorgestühl mit den vielen,
flachgeschnitzten, festgebannten „Narrenteidingen" (Fastnachtsköpfe), seiner
edlen Maria- und Christusstatue über der Sakristeitür, dem modern wirkenden,
unergründlichen Frauenkopf von 1389 über der Sediliennische, den uralten
Glasmalereien und vor allem zu seinem Hochaltar.
Welch eine
eindringliche, predigende Kraft wohnt ihm inne! Mögen die Gelehrten streiten,
ob Veit Stoß selbst oder Erasmus Grasser ihn geschaffen hat. Tatsache ist,
daß die Creglinger Gemeinde durch die Zehntausende opfernder Besucher schon
innerhalb eines Jahrhunderts in der Lage war, die bedeutendsten Künstler
heranzuziehen - wir stellen diese Tatsache hier fest und sind der Vorsehung
dankbar, die uns trotz größter Bedrohung diese Werke auch durch die Gefahren
des letzten Krieges und Kriegsendes erhalten hat.
Der Altar stellt die Passion Christi dar, so realistisch, wie sie im
mittelalterlichen Passionsspiel gestaltet wurde. Nach Ausdruck und Gewändern
sehen wir die typischen Passionsspieler jener Zeit: links den vornehmen und
hochmütigen Statthalter Pilatus mit der Schriftrolle I.N.R.I., rechts seinen
Gegenspieler, den fanatischen jüdischen Hohepriester, als ob er sagen wollte:
„Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muß er sterben!" (Joh. 19, 7),
neben ihm zwei Kriegsknechte mit Schwert und Schwamm am Isopstengel, die wie
leibhaftige mittelalterliche Landsknechte wirken, in der Mitte die den Stamm
des Kreuzes umfassende, tief erschütterte Maria Magdalena, und ihr zur Seite
die ungemein ausdrucksvolle Gruppe des Johannes als Seher, wissend, daß dies
Geschehen zum Besten der Menschheit sich gestalten wird, und der Maria, die in
dieser Passionsdarstellung ihren Schmerz ergreifend zum Ausdruck bringt —
alles in lebendigster Darstellung.
Eine tief ergreifende Predigt halten uns die
drei Gekreuzigten: des Heilands Haupt voll Blut und Wunden („du edles
Angesichte, wie bist du so entstellt") hat soeben seinen letzten Atemzug getan,
der Herr hat sein Erlösungswerk vollbracht, und die Engel selbst können nur
anbeten und das Blut des Heilands im Abendmahlskelch für die leidende
Menschheit auffangen. Der Schächer zur Linken (rechts) ist der typische
Weltmensch, mit wundervollem Körperbau. Ist es nicht, als ob er aus eigener
Machtvollkommenheit sein Leben gestalten wollte, als ob er dabei aber, statt
zum Übermenschen zu werden, sich in die Gesellschaft des Untermenschentums
verstrickte - und jetzt folgerichtig seinen Weg in Nihilismus und Verzweiflung
zu Ende gehe? Der Schächer zur Rechten (links) ist der zerbrochene Idealist,
der wohl auf vielen Irrwegen an der Bosheit und Tücke dieser Welt aktiv und,
wie sein narbenvoller Körper zeigt, auch passiv teilgenommen hat, der aber
trotzdem oder eben deshalb mit unendlicher Hingabe die Erlösung sucht, ahnt
und findet. In der Predella unten links spricht ganz lebendig mit dem Beschauer
der hl. Andreas mit dem Andreaskreuz, „die hl. Anna selbdritt" weist uns ihre
demütig fromme Tochter Maria und ihren wichtigen Jesusenkel, während der
biedere Christophorus rechts die Schwere, aber auch den Segen des Jesuskindes
spürt. Spüren nicht auch wir vor diesem Altar etwas von dem Wirrwarr und der
Sünde der Welt und davon, daß nur Gottes Lamm dieser Welt Sünde trägt, daß
es allein uns zu erlösen vermag von Welt, Sünde und Tod?
Aufgewühlt von der unruhig flackernden Leidenschaft und predigenden
Wucht eines Veit Stoß treten wir nun zurück in das Schiff vor
Riemenschneiders Wallfahrtsaltar. (Er steht unten auf der alten
Mensa an der Stelle, wo der „Herrgott", die hl. Hostie, vom Bauern beim
Pflügen gefunden worden sein soll. Ihm zu Ehren wurde die Kirche gestiftet und
unser Altar hier errichtet.
Die wundervolle Mitte der Predella unten zeigt noch
heute das Tuch, von zwei Engeln überm Ziborium festgehalten, worin der
Herrgott zur Schau gestellt ward,
und zu höchst oben in der Krönung
führt der siegende, auferstandene Christus mit den Wundmalen das letzte Wort.)
Der Altar ist, wie viele bekennen, der schönste Schnitzaltar der Welt. Welch
ein Gegensatz: dort das Werk des ringenden Realistikers Veit Stoß hier das des
edlen, frommen Mystikers, der den Zugang zur höheren Welt und zum Frieden
Gottes gefunden hat und ihn uns weiterreicht. Riemenschneiders Altar spielt uns
nicht die Wirklichkeit dieser Welt vor. Er ist selbst ein Stück der
Wirklichkeit des Reiches Gottes. Die vollendete Gotik des Rankenwerks, der
Inhalt der einzelnen Bilder, die aufschwebende Maria und oben die zu krönende
Gottesmutter, ...
...welche die durch den Gnadenakt Gottes erlöste Menschheit
repräsentiert, dies alles ruft uns zu: „Erheb, o Christ, dein Herz und Sinn!
Fleuch denkend von der Erden! Hinauf! schwing dich zum Himmel hin; ein Christ
muß himmlisch werden!" (E. Liebich). Dieser Altar führt uns in frommer
Versunkenheit vor eine Welt zartester, reinster Schönheit, innigster
Gottesminne, himmlischer Musik — er ist die Enthüllung eines Heiligtums,
wirklich ein Gruß aus einer anderen Welt, wie sie nur der Apostel Johannes
im Buch seiner Offenbarung uns erstehen läßt.
Hier ist nicht mehr Mühen,
Kämpfen, Ringen, hier ist holdselige Versenkung ins Unaussprechliche, tiefe
Schau, die da „sieht die Hütte Gottes bei den Menschen, und der Tod wird
nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein" (Offb.
Joh. 21, 3 und 4). Ist das nicht eine Predigt für unsere heutige so zerrissene
Zeit, ein Anruf aus einer anderen Welt, verständlicher als alles, was etwa
Pfarrer sagen, denen man zuhört oder auch nicht zuhört? Ist's nicht, als
hörten wir des Heilands Stimme selbst: „Wo diese werden schweigen, so werden
die Steine —oder die Hölzer — schreien" (Lukas 19, 40)? Freilich stehen
wir zunächst vor unserem Altar schweigend im oft so genannten „nordischen"
Abstandsgefühl. Da ist keine Farbe, kein bestechender Wunderakt, keine süße
Sentimentalität. Da sind Menschen von Fleisch und Blut, gutmütige, weichere
und gröbere, oft wehmütige, wie wir sie in Würzburg oder Creglingen
noch heute sehen. Und doch sind sie alle erfüllt von dem einen schier
Unbegreiflichen, das hier seine Darstellung gefunden hat. Es ist, als wollten
sie sagen: „Ich danke dir, du wahre Sonne, daß mir dein Glanz hat Licht
gebracht!" (Angelus Silesius). Je länger wir andächtig davor stehen, um so
mehr werden wir „erhoben" und selbst verinnerlicht und veredelt, zu Gottes
Kindern gewandelt.
Lassen wir das Einzelne zu uns sprechen. Zuerst das ganze G e r a n k e:
Ist's nicht, als wäre der ganze deutsche Wald hereingenommen? Solch eine
Fülle gotischer Erfindungskraft entfalten Rankenwerk, Kielbogen und
Fialenwerk, der ganze Aufbau als solcher! Wir würden die Überfülle kaum
verstehen, wenn wir nicht wüßten, daß damals ein Altaraufbau so sehr
geschätzt wurde, daß z. B. in Rothenburg der Schreiner Harschner dafür
doppelt so viel Geld bekam als Riemenschneider für seine Figuren. In Ehrfurcht
stehen wir stille vor dem ganzen wunderbaren Altaraufbau. Unglaublich ist dies
Rankenwerk der gotischen Bögen. Alles strebt nach oben, als wüchse es
wirklich dem Lichte entgegen, als sei es kein Menschenwerk. Wie eigensinnige
Zweiglein wächst es noch an den Seiten heraus, und neben den Hauptspitzen
sprossen noch kleine, die nach außen geneigt sind.
Und erst die Darstellungen! Der Altar stellt die sieben Freuden der Maria
von der Verkündigung bis zur Krönung dar, Freuden, an denen die gläubige
Christenheit selbst bis heute teilhaben darf und soll. Das Hauptbild Mariä
Himmelfahrt, im Schrein aus Föhrenholz, hat als Hintergrund die
Lindenholzfiguren unserer herrgottskirche selbst: symbolisch für die gegenwart
und Wirklichkeitsbedeutung dieses Geschehens für uns, hier und jetzt. Die
Wände des Schiffes mit den zwei Fensterpaaren sind statt in der Senkrechten um
90 Grad zurückgebogen, wie es in dem Altaraufbau nicht anders sein kann.
Unermeßlich wird jedem die aufschwebende Maria selbst bleiben, die vollendete
Frauengestalt, die je ein Künstler geschaffen hat. Schlicht und einfach ist
sie, nicht thronende Himmelskönigin, auch nicht stolze Mutter, wie bei so
vielen anderen Darstellungen, aber doch erhaben, voll Hoheit, selbst schon
Künderin einer anderen Welt, betend versunken, als ob sie gar nicht merke, was
mit ihr geschieht: die schönste und reinste Frau.
„Ihre Augen
blicken nicht auf uns, nicht in ihre Umgebung, sie richten sich hinaus über
alle sichtbare Wirklichkeit, hinüber in die Ewigkeit" (Seb. Schmerl). Um sie
schweben fünf Engel. Sie sind vielleicht das Unglaublichste des ganzen Werkes.
Nirgendwo anders kann man so von aller Erdenschwere befreite Flügelwesen
finden, mit einem solchen Schweben und Schwingen und einer solchen Wahrheit des
Ausdrucks göttlicher Heiligkeit und himmlischer Freude.
Unter dem untersten Engel (ist's Michael, der die Todes- und Höllengeister
abhält?) ist die Leere des Grabes, des Abgrunds. Rechts und links steht je
eine Gruppe von sechs J ü n g e r n, ein jeder ein Meisterwerk für sich, und
jeder Ausschnitt einer Gruppe desgleichen ein Meisterwerk.
Links
vorn ist das Brüderpaar P e t r us und Andreas. Petrus, der
Feuerkopf, starrt verwundert offenen Mundes der entschwebenden Maria nach, und
möchte doch im selben Augenblick am liebsten selbst zum Himmel fahren; Andreas
(nicht Paulus!), still für sich in ernster Andacht versunken, legt die zarte
Hand um des Bruders Schulter, die andere an das Buch. Links von ihm ist
Bartholomäus Nathanan „ein rechter Israelit, in welchem kein Falsch ist",
wie er von Jesus geschaut wurde, als er unter dem Feigenbaum sich unbeobachtet
wähnte. Oben links steht ein anbetender Seher mit dem Manteltuch überm Haupt,
der mit betenden Händen seitlich zu Maria blickt und doch an ihr vorbei
gleichsam in die Zukunft, in die Ewigkeit schaut, ganz
unberührt von dem mehr fragenden Blick seines Nachbarn (J a k o b u s des
Jüngeren ?). Ob es wohl der früher ungläubige, jetzt anbetende T h o m a s
ist, der da spricht: „Mein Herr und mein Gott!"? Endlich steht über Petrus
die wunderbare Gestalt des Mönches P h i l i p p u s mit dem gläubig
aufblickenden, innerlichst durchläuterten Gesicht und den frommen, reinen,
überm Buch gekreuzten Händen.
Wie oft finden Besucher dies als „das
schönste Lutherbild Deutsch-lands".
Und wir müssen ihnen sagen: „Das kann
nicht Luther sein, denn das Bild ist spätestens 1505 oder 1510 geschnitzt und
Luther frühestens 1517 bekannt." Und doch gleicht es den vielen Lutherbildern
von Lukas Cranach, und es ist uns heute, als hätte Meister Tilman prophetisch
vorahnend das Bild des frommen deutschen Mönches geschaut. In der rechten
Gruppe ist vorne der unvergleichliche J o h a n n e s. Welche
Innigkeit, Reinheit und Hingebung liegt in der Haltung seines edlen Kopfes!
Seine Hand ist neuerdings ergänzt und darum nicht so beseelt wie alle anderen
Hände, denn unser heutiges Zeitalter ist nicht mehr imstande,
Riemensdineiderhände zu schaffen. Ganz rechts steht Ja k o b u s
der Ältere. Christusähnlich ist sein edles Haupt, seine
Hände sind wunderbar fein und beseelt. Zwischen beiden ist eine
gröbere Gestalt mit härterem Gesicht, aber auch demütig die Hände kreuzend
(vielleicht der Zöllner Matthäus ?). Rechts von ihm ist Matthias mit
dem jugendlichen, bartlosen Haupt, über ihm sind die bewegten, königlichen
Heldenköpfe des T h a d d ä u s und Simon, beide unwillkürlich die Hand
erhebend, als Maria vor ihnen auffährt.
Um dieses Hauptbild mit seinem die Seelen himmelwärts führenden
Rhythmus und der sprühenden, edlen Musik des ganzen Rankenwerkes schwingen
Seitenflügel, Predella und Auszugsgruppe zu einem wahrhaft symphonischen
Ganzen, alles reinste Harmonie, zu der gotisch frommes Weltgefühl und
lebensvolle Natürlichkeit zusammenklingen. Welch tiefe Symbolik liegt zum
Beispiel allein in
der Ellipse, zu der die einzelnen Gruppen geordnet sind! Es ist die Form
des Eis als Symbol des Lebens, die wir schon bei der auffahrenden Maria mit den
Engeln gewahren (sog. „Mandelform"), und die sich überall wiederholt. Im
Seitenflügel links unten ist Mariä Verkündigung dargestellt,
das zugleich innigste und gewaltigste Relief:
Der Gottesbote Gabriel kommt aus
der freien Schöpfungswelt Gottes zu Maria in die raumbegrenzte irdische Welt
hernieder. Das Ganze ist in der Ellipse gestaltet von den Engelsflügeln links
herunter zum Saum des Gewandes der Maria und zurück über das Haupt der
Jungfrau und die Schwurfinger des Engels. Aber wenn Himmel und Erde einander
berühren, wirkt eine ungeheure Dynamik in der Ellipse, ein-, zwei- und
dreimal, alles ist Leben, Kraft, Bewegung. Im Gegensatz dazu ist in Mariä
Heimsuchung darüber dieselbe Form des Eis, aber ganz ruhig und
verhalten: es sind die beiden hoffenden, werdenden Mütter, die sich die Hände
reichen und voll geisterfüllter Hoffnung in die Zukunft schauen. In der Geburt
Christi (Seitenflügel rechts oben) ist wieder diese Geschlossenheit,
jedoch ist diesmal das Ei gleichsam eröffnet durch das in der Mitte vom Himmel
herabgesenkte Christkind.
Es liegt im Saum des Gewandes der Maria, auf Heu und
Stroh in Niedrigkeit, aber das Stroh ist symbolisch geformt zur Strahlenkrone
des Himmelskönigs. Maria betet demütig als Magd des Herrn, und doch ist ihr
Gewand symbolisch geformt zur Mondsichel als das der Himmelskönigin. Joseph
hält vorsichtig die Kerze als der juristische Nährvater, der dafür sorgen
muß, daß das Lebenslicht des Kindleins nicht ausgeblasen wird. Und doch ist
es, als ob er mit Luther sagen wollte: „Das ewig Licht geht da herein, gibt
der Welt ein'n neuen Schein!" Und Ochs und Esel, die seufzende Kreatur, wird
frei werden zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes (Röm. 8, 21). Im
Gegensatz zu diesen Bildern ist die Darstellung im Tempel rechts
merkwürdig steif.
Die beiden Gruppen sind getrennt durch den Altar mit
Aufsatz. Steif ist die Haltung der Gestalten, besonders die des Joseph links,
steif die Gewänder, besonders das des Priesters rechts. Soll das die Steifheit
des alttestamentlichen Gesetzes bedeuten, unter das der Sohn getan wird, „auf
daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste" (Gal. 4, 4 und 5), oder ist
dieses Bild das Werk nicht des Meisters selbst, sondern nur das des besten
seiner vielen Gesellen? Dagegen ist in der P r e d e l l a rechts das Bild des
12jährigen Jesus im Tempel eine wundersame vollkommene Einheit, den
andern Bildern ebenbürtig. Hier hat Riemenschneider sich selbst dargestellt
in dem so nachdenklich ganz rechts bewußt zu den Füßen seines Heilandes
stehenden Gelehrten.
Das Gegenstück finden wir in der Anbetung der drei Weisen
links. Wunderbar ist das Mittelstück, die beiden Engel mit dem Tuch.
Dann wenden wir unseren Blick nach oben, wo die einzige
waagrechte Linie dieses aufstrebenden gotischen Altares gezogen ist zur
Scheidung des Himmels von der Erde: Maria ist dort, gekrönt durch zwei von
oben herabschwebenden Engeln, zwischen Gott Vater, dem Gütigen, Sinnenden, und
Gott Sohn, dem durch so viele Schmerzen hindurchgegangenen Erlöser.
Und noch höher steigt der Blick zur höchsten Spitze des Altars. Das letzte
Wort spricht dort der auferstandene Erlöser mit der leider abgefallenen
Siegesfahne in der erhobenen Linken.
Der ganze Herrgottsaltar verkündet Frieden und Freude im heiligen
Geiste, in dem, harmonischen Zusammenklang aller seiner Teile ebenso wie in der
seelischen Verklärung der Gesichter und Gestalten, in der Beseelung selbst
der Hände und der bald heftig bewegten (Engel), bald weichen
und ruhevollen, bald eckigen und schweren, bald schützenden (Heimsuchung) und
verhüllenden Gewänder. Hier ist die Gotik wahrlich keine leere Form, sondern
Wirklichkeit gewordenes Erleben der christlichen Seele. Eine jüngste Epoche
hat behauptet, unsere mittelalterlichen Kunstwerke seien nicht Werke aus dem
Geist der christlichen Kirche, sondern Schöpfungen der aufflammenden
nordischen Seele gegen fremde christliche Übertünchung. Niemand wird nach
unserer Wallfahrt zu Creglingens Kunstwerken so urteilen. Diese Werke sind
wahrlich nichts anderes als die innigste Vermählung der deutschen Seele mit
dem christlichen Geist, aus dem Urgrund christlichen Erlebens heraus
geschaffen, unser Riemenschneideraltar ebenso wie Meister Erwin von Steinbachs
Münster in Straßburg oder Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion. Sie sind
nichts anderes als ein sichtbares Hereinragen der ewigen Kräfte Gottes und
seines lieben Sohnes in unsere so unvollkommene Welt, uns zur Mahnung, daß
auch wir trachten mögen nach diesem Reiche Gottes und seinem Heile:
„Himmelan, nur himmelan soll der Wandel gehn!" (1. G. Schönerer.)
Wenn wir nun Abschied von unserem Gotteshaus nehmen, so wollen wir es
nicht bloß als ein edles Zeugnis unserer Vergangenheit ansehen. Es ruft uns
vielmehr von allen Seiten zu: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb
es, um es zu besitzen!" (Goethe), Hat nicht ein Michael Wolgemut, der Lehrer
Albrecht Dürers, auf den noch gar nicht besprochenen Seitenflügeln unsres
Hochaltars in seiner feinen Farbgebung den Ölberg, die Kreuztragung,
Grablegung und Auferstehung des Heilands in unsre deutsche fränkische
Landschaft und Gegenwart hineingestellt, so daß man meint, ungefähr Gegenden
wie unser Creglingen oder Weißenburg oder Pappenheim zu erkennen? Das heißt
aber: Christus ist nicht für ferne, fremde Menschen, sondern für uns hic et
nunc (hier und jetzt) gestorben und auferstanden! Ist nicht auch die deutsche
Seele eine „anima naturaliter Christiane" (Tertullian). So möge auch heute
noch unsre fromme Einkehr in Creglingen uns helfen zur Erschließung der
irdischen und der himmlischen Heimat für uns „Wanderer zwischen beiden
Welten"!