Klaus Mohr
Ein Fahrrad mit Familienanschluss
Alles begann bei einem netten Gespräch
mit Dr. Klaus Mohr in der Kilchberger
Kulturscheune. Er erzählte mir von seinem Vater, der mit seinem alten Fahrrad
in den Fünfziger Jahren mehrere Gemeinden als evangelischer Gemeindepfarrer betreute. Leider sei das Fahrrad
mittlerweile so defekt und rostig, dass er
es wohl entsorgen müsse. Oder vielleicht
könnte ich es zu mir nehmen? Natürlich
holte ich das Fahrrad ab und stellte fest,
dass es aus den Zwanziger Jahren sein
müsste. Ich sah auch, dass bei einer Restaurierung eine Menge Arbeit auf mich
zukommen würde. Aus diesem Grunde
stellte ich das Rad zunächst einmal zu
meinem Fundus.
Anfang des vergangenen Jahres wurde
ich gefragt, ob ich nicht in das Organisationsteam der Weilheimer Kirche einsteigen wollte. Es ging um die Mitgestaltung der „Weilheimer Radwegekirche“, die am Pfingstsonntag 2016 eingeweiht werden sollte. Radwegekirchen
sind deutschlandweit evangelische Kirchen, die an offiziellen Radwanderwegen
liegen und tagsüber geöffnet sind. Als
Radfahrer findet man dort sowohl Rast
und Ruhe als auch Informationen über
die Kirche und die dazugehörige Gemeinde. Diese bevorstehenden Feierlichkeiten nahm ich zum Anlass, des Pfarrers
Rad zu restaurieren – so schonend wie
möglich. Die Anmut des Oldtimers und
seinen Wiedererkennungswert wollte ich
unbedingt erhalten.
Bei der Durchsicht des schwarzen und
vor Rost strotzenden Ungetüms stellte
ich fest, dass außer den Pedalen, dem
Sattel und Schaltungszuggestänge alles
noch original vorhanden war. Nur dass
sich gar nichts mehr drehte,die Schaltung
nicht funktionierte und der Rahmen in
den 1950er Jahren schwarz überpinselt
wurde,was mir sehr viele Schwierigkeiten
bereitete. Das 28 Zoll-Herrenrad (Rahmennr.172 870)mit Wulstreifen und originalem Doppel-Torpedo ist ein „Hercules“ aus Nürnberg und unser Markenspezialist Heiko Petrich erkannte es als „Modell 71 - Feines Tourenrad mit bunten
Felgen“, gebaut im Jahr 1923. Mein Plan
der behutsamen Restaurierung gelang
schließlich – das historische Rad war ein
Blickfang bei der Einweihungsfeier.
Auf meine Frage an Herrn Dr. Klaus
Mohr,ob er mir die Herkunft dieses Fahrrades nicht in einigen Sätzen beschreiben
könnte, bekam ich folgende,sehr interessante Schilderung seiner Familiengeschichte, in der dem Hercules-Rad eine
große Rolle zukam.
Das Fahrrad unseres Vaters
Unser Vater, der Pfarrer Heinrich
Mohr de Sylva (1891-1988), hatte die
Pfarrstellen Weilheim und Kilchberg bei
Tübingen übertragen bekommen. Neben
diesen beiden großen evangelischen
Gemeinden hatte er auch noch die katholischen Filialorte Bühl und Hirschau zu
versorgen, in denen es aber nur wenige
Protestanten gab. Als Pfarrer hat er wie
viele seiner Vorfahren Theologie studiert
und war seit 1913 im württembergischen
Pfarrdienst. Zuerst als Vikar in Stuttgart,
von 1917 bis 1931 in Steinkirchen im
Kochertal, danach in Creglingen und von
1950 bis 1965 in Kilchberg bei Tübingen.
Wahrscheinlich hat Vater das Hercules-
Rad seinerzeit neu gekauft hat. Es ist
Baujahr 1923 und ab diesem Jahr zog es
als treuer Begleiter mit ihm mit.Seit 1925
hat er, ausgehend von der Singbewegung
von Walter Hensel und Fritz Jöde, in
vielen abgelegenen Orten in Hohenlohe
etliche Singfreizeiten und -treffen veranstaltet, zu denen oft Hunderte von Bauernburschen und -mädels kamen. Das
Hercules-Rad trug ihn brav auch dort
überall hin.
Seine Frau Johanna, geb. Gerber aus
Altenburg in Thüringen,hatte er im Frühjahr 1930 in einem völkischen Jugendbund kennen gelernt. Beide, von der
Jugendbewegung begeistert,hatten sogar
Führungsaufgaben
übernommen. Die
Machtergreifung der
Nationalsozialisten
1933 schien ihnen
eine schicksalhafte
Wende in der zerfahrenen Weimarer Republik zu sein. So
haben sie in den
Anfangsjahren des
Dritten Reiches ihre Schaffenskraft in
den Dienst des neuen Staates gestellt.Mein Vater kaufte sich
zwischenzeitlich einen Opel. Doch 1935
bekamen meine Eltern Schwierigkeiten
mit der Partei, so dass sie ihre Mitarbeit bei Veranstaltungen und im NSFrauenbund beenden mussten. 1939
wurde Vater sogar sein geliebter Opel
entzogen.
Direkt nach dem Krieg waren Autos
selten anzutreffen. In Kilchberg gab es
damals gerade mal drei kleine dreirädrige
Lieferwagen, die örtlichen Handwerkern zur Verfügung standen. Vater trat
dort seinen Seelsorgedienst im April 1950
an. Sein Hercules-Rad war in dieser Zeit
für ihn sehr wichtig, war es doch sein
einziges Fortbewegungsmittel.
Vaters Fahrrad hatte damals für mich
und meinen Zwillingsbruder als Achtjährige eine große Anziehungskraft. Wir
durften es warten und pflegen,aber damit
fahren durften wir nicht. Und wir konnten es auch zunächst gar nicht: Es war ein
großes Herrenrad mit Querstange und
hohem Sattel. Heimlich probierten wir es
trotzdem und mussten feststellen, dass
wir nur im Stehen, mit einem Fuß seitlich
durch den Rahmen hindurch, fahren
konnten. Oder wir probierten, für kurze
Zeit auf der Aufstiegshilfe am linken
Hinterrad zu balancieren.Das war für uns
Buben ein besonderes Vergnügen!
Aber mein Bruder und ich durften es
manchmal auch aus dem Dreck des Weilheimer Weges holen – wenn nämlich
Vater bei Regenwetter sonntags gegen 10
Uhr von Weilheim kommend schnell zum
Gottesdienst nach Kilchberg wollte.
Dieser Feldweg war bei Nässe eine einzige Katastrophe, dann fuhr sich das Hercules-Rad im Matsch fest. Vater ließ es
stehen und lief so gut und schnell er konnte nach Kilchberg, das etwa einen Kilometer von Weilheim entfernt lag.
Zornentbrannt kam er zuhause an und
rief uns Zwillinge zu sich und befahl:Holt
mir das Fahrrad aus dem Dreck! Schnell
ging er mit total schmutzigen Stiefeln und
dreckverschmierter Hose zum nächsten
Gottesdienst in die Kirche und zog sich
den Talar über, der alles bedeckte. Dort
traute er sich fast nicht hinter dem Altar
hervor, denn seine schmutzigen Schuhe
verrieten sein Malheur. Noch Jahre später schmunzelten die Weilheimer und die
Kilchberger Bürger über des Pfarrers
verschmutzte Schuhe.
AuchmeineMutterbesaßzudieserZeit
ein schwarzes Fahrrad. Als Damenrad
durften wir auf ihm das Radfahren lernen
und konnten es – beschränkt – nutzen.
Vater fuhr das Hercules-Rad noch lange.
Irgendwann pinselte einer von uns Buben
das Rad schwarz an, dann geriet es inVergessenheit und kam im Holzschuppen
unter. Von dort fand es dann Jahrzehnte
späterdenWeg indasWeilheimerFahrradmuseum. Dort ist es nun ein Prunkstück
mit daneben gestellten – wie könnte es
anders sein – verdreckten Schuhen und
einerBibel!
Radeln in Kilchberg und Weilheim
Ein paar erwähnenswerte Dinge
zum Thema Radfahren sollen noch ergänzt werden. Auch
in Kilchberg und
Weilheim gab es
schon vor dem Ersten Weltkrieg Fahrräder. In Weilheim
hat Pfarrer Dieterich zwei Photographien aus dem Jahr
1916 hinterlassen,
die vielleicht ihn
und seine Frau bzw.
drei Kinder, jeweils im Pfarrhof,mit Fahrrädern zeigen.
Fahrradfahren war noch vor über 100
Jahren genehmigungspflichtig. In Kilchberg war dafür der Schultheiß (Bürgermeister) zuständig. Auf Antrag gab er
„Radfahrkarten“ aus, so z. B. für den
Lehrersohn Gustav Binder. Die Karte wird heute im Ortsarchiv Kilchberg unter
der Signatur 50a aufbewahrt.
Alle Inhaber einer solchen Karte wurden fein säuberlich im Fahrradbuch der
Gemeindeverwaltung verzeichnet, es
wurde bis 1922 geführt.15 Besitzer hatten
ihre Erlaubniskarten schon am 4. Januar
1905 im Rathaus erworben. An erster
Stelle stand der Pomologe Gustav Bürker, bis 1922 kamen nochmals 47 Berechtigte hinzu.Als Magnus von Tessin als 63.
seine Radfahrkarte am 15. November
1922 bekommen sollte, ist die Ausstellungspflicht aufgehoben worden.
M a n c h e
Männer, die
auswärts ihre
Arbeit gefunden hatten, besaßen ein Fahrrad, um ihre
Arbeitsstelle
zu erreichen.
Auch der Landarzt, der Kilchberg versorgte,
kam – sogar im
Notfall – mit
dem Rad von
Tübingen nach
Kilchberg. Das
Fahrrad war
auch im Falle
eines Feuers wichtig: Brandalarm wurde
von einem „Hornisten“ ausgelöst, der
noch bis 1960 im Ernstfall Signal blasend
durchs Dorf radeln musste. Wie lange es
dauerte, vom Feststellen des Brandes
über das Aufsuchen des zuständigen
Brandbläsers bis zu den ersten Trompetentönen,kann man sich denken!
Viele junge Leute ließen sich zur Konfirmation Geld für das heiß ersehnte
eigene Fahrrad schenken.Auch ich selbst
bekam zur Konfirmation 1957 schon ein
Dreigang-Rad! Das sah schon richtig
modern aus! In den Sechziger und Siebziger Jahren waren Fahrräder der nahegelegenen MAICO-Werke als Konfirmationsgeschenk sehr beliebt. Auch heute
noch sieht man hin und wieder so ein 26“
MAICO-Rad in Tübingen.
Quelle
(Einleitung: Michael Faiß, Tübingen;
Erzählung: Dr. Klaus Mohr, Fotos wenn
nicht anders angegeben:privat)
Immer einen Besuch wert.
Fahrradmuseum in Weilheim
Siehe auch die Homepage des Fahrradmuseums.