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Gesprächskreis Ehemalige
Synagoge Haigerloch



Ende im Nationalsozialismus

Beginnende Ausgrenzung und Diskriminierung (1933 - 1935)

Am 30. Januar 1933 lebten in Haigerloch 193 Juden: Männer, Frauen und Kinder, was einem prozentualen Anteil von 14 % der Gesamtbevölkerung entsprach. Im November 1942 gab es keine Juden mehr in Haigerloch. Was war in neun Jahren mit ihnen geschehen? Wo waren sie?

In den ersten Jahren nach der „Machtergreifung" der Nationalsozialisten wurden die Juden zunehmend aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Auch in Haigerloch zeigte sich die Veränderung des politischen Klimas schon bald: Zwar fand der Aufruf zum Boykott der jüdischen Geschäfte am 1. April 1933 in Haigerloch keinen Anklang, erst in den späteren Jahren wurden auch hier jüdische Geschäfte boykottiert.

Die im März 1933 in den Haigerlocher Gemeinderat wiedergewählten Juden Jakob Hohenemser und Louis Ullmann mussten auf erheblichen Druck im August ihre Mandate niederlegen. Die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr Issi Bernheimer und Adolf Hohenemser wurden aus der Wehr verdrängt. Der Volkstrauertag 1934 fand erstmals unter Ausschluss des Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten statt. 1935 ordnete der Bürgermeister auf Antrag des Schulleiters getrennte Badezeiten für christliche und jüdische Kinder an. Im gleichen Jahr warnten die "Hohenzollerischen Blätter" vor einem Juden, der es auf "arische" Frauen abgesehen habe. Für den Wiederholungsfall wird mit dem "Volkszorn" gedroht. Immer wieder kam es zu willkürlichen Verhaftungen von Juden und deren Einweisung in "Schutzhaftlager", die Entlassenen unterlagen einer strengen polizeilichen Meldepflicht.

Umfassende Ausgrenzung und Entrechtung: Von den "Nürnberger Gesetzen" bis zur "Reichspogromnacht" (1935 – 1938)

Die „Nürnberger Gesetze" hatten weitestgehende Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse der Juden. Es handelte sich hierbei um zwei Gesetze: Das sogenannte „Blutschutzgesetz" verbot die Eheschließung sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und „Deutschblütigen". Letzterer wurde als Straftat mit Zuchthaus geahndet. Ab 1939 wurde nicht selten sogar die Todesstrafe verhängt. Da schon der bloße Verdacht der „Rassenschande" gefährlich war, gerieten die Juden immer weiter in die Isolation und wurden Menschen zweiter Klasse. Das „Reichsbürgergesetz" verlieh den „Ariern" den Rechtsstatus eines „Reichsbürgers", woran alle politischen Rechte geknüpft waren. Die Juden behielten nur die „Staatsbürgerschaft". Jude war, wer von drei jüdischen Großelternteilen abstammte, als Jude galt (so genannter „Geltungsjude"), wer zwei jüdische Großeltern hatte und der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörte oder mit einem Volljuden verheiratet war.

Die Juden wurden verschärftem wirtschaftlichem Druck ausgesetzt mit dem Ziel, sie ganz aus dem Wirtschaftsleben auszuschalten. 1938 gab es eine regelrechte Arisierungswelle. 1935 nannte die NS-Schrift „Deutscher kauf nicht beim Juden!" in Haigerloch 39 jüdische Geschäfte, 1938 gab es noch 31, und 13 jüdische Firmen mussten in diesem Jahr aufgelöst werden. Der Viehwirtschaftsverband schloss seit dem Frühjahr 1938 jüdische Viehhändler vom Beruf aus, was man verharmlosend als „Berufsbereinigung" bezeichnete. Im September 1938 verloren die Wandergewerbsscheine ihre Gültigkeit. Die zahlreichen jüdischen Viehhändler Haigerlochs waren vom Markt gedrängt, nur ein christlicher Viehhändler war noch aus Haigerloch tätig. Sämtliche „jüdischen" Gewerbebetriebe wurden 1938 registriert und gekennzeichnet. Nach und nach verloren die kleineren Unternehmer ihre Konzession. Größere Unternehmen wurden „arisiert" durch Zwangsenteignung der jüdischen Besitzer .In Haigerloch traf dies in mindestens einem Fall zu (Oel- und Fetthandlung Benno Reutlinger). Auch die Firma H. und H. Levi Manufakturen, die noch von 1934 bis 1937 einen christlichen Lehrling ausbildete, wechselte den Besitzer. Die „Arisierung" der jüdischen Geschäfte und des jüdischen Grundbesitzes ging auch in Haigerloch voran. Vor allem durch die Emigration wurden Häuser von Juden an „Arier" verkauft. In Haigerloch existierten gar detaillierte Listen von „Kaufliebhabern".

Auch die jüdischen Gemeinden als Körperschaften wurden mit verschärften Repressalien überzogen. Im März 1938 verloren sie ihren Status als öffentlich-rechtliche Körperschaften. Da die Abgaben der Gemeindemitglieder auf freiwilliger Basis erfolgten, erwuchsen den Gemeinden angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Mitglieder erhebliche Probleme.

Das reiche jüdische Vereinsleben in Haigerloch, das die Behörden seit 1936 durch zunächst vierteljährliche, später durch monatliche Meldepflichten sorgsam überwachten, kam Ende 1938 völlig zum Erliegen.

Die jüdische Volksschule wurde zum 1. Oktober 1939 aufgehoben.

Die „Reichspogromnacht" vom 9./10. November 1938

Für die Angriffe der Nazis auf Hab und Gut, auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit der deutschen Juden vom 9. auf 10. November 1938 werden häufig die Begriffe „Reichspogromnacht", „Reichskristallnacht" oder die Umschreibung „Die Nacht, in der die Synagogen brannten" verwendet. Dies sind nur unzulängliche Bezeichnungen, die das Wesentliche der in der deutschen Geschichte noch nie dagewesenen Vorgänge verharmlosen oder in ihrer Aussage zu ungenau sind. Blieb von den Ereignissen jener Nacht tatsächlich nur ein gewaltiger Scherbenberg an zerschlagenen Fenstern von Synagogen, Geschäftslokalen oder Privathäusern übrig? Dabei unterliegt es keinem Zweifel, dass die Bezeichnungen nur einen Bruchteil der Vergehen und Verbrechen darstellen. Häufig wird der Novemberpogrom darauf reduziert, dass enorme Sachwerte vernichtet wurden, viel weniger bekannt ist, dass in dieser Nacht eine Flut brutaler Ausschreitungen gegen die deutschen Juden losbrach. Sie wurden ihrer persönlichen Freiheit beraubt und ihre körperliche Unversehrtheit war weitgehend in Frage gestellt. Drei Zielrichtungen der Nazi-Politik sind zu erkennen: Erstens, der Angriff auf private und gemeinsame jüdische Vermögenswerte, zweitens, die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz und, drittens, die individuellen Angriffe auf ein unversehrtes Leben in persönlicher Freiheit.

Anlass für die Zerstörungsorgie war angeblich das Attentat des jungen polnischen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Gesandtschaftsrat Ernst vom Rath in Paris am 7. November 1938. Auch die Juden in Haigerloch mussten hilflos zusehen, wie ihre Synagoge zwar nicht in Brand gesteckt, aber doch schwer demoliert und zahlreiche Häuser beschädigt wurden. Die zehn jüdischen Kaufleute Leopold Hirsch, Siegfried Katz, Alfred Levi, Hermann Levi, Wilhelm Levi, Benno Reutlinger, Paul Singer, Max Ullmann, Louis Ullmann, Sally Ullmann und der Lehrer Gustav Spier wurden verhaftet und in das KZ Dachau eingeliefert. Sie kamen erst nach Wochen wieder frei.

Von einem „spontanen Volkszorn" konnte in Haigerloch ebenso wenig gesprochen werden wie anderenorts. Die Ausschreitungen waren von der NSDAP organisiert und wurden von ihr, der SA und der SS durchgeführt. Die örtlichen SA- und SS-Führer erhielten in der Regel telefonisch die entsprechenden Befehle, mit ihren rasch zusammengerufenen Mannschaften die Aktionen durchzuführen. In einem parteiinternen Bericht des Obersten Parteigerichts der NSDAP vom Februar 1939, der 1946 in Nürnberg dem Internationalen Militärgerichtshof als Beweisstück vorgelegt wurde, stand: „Die mündlich gegebenen Weisungen des Reichspropagandaleiters sind von sämtlichen anwesenden Parteiführern so verstanden worden, dass die Partei nach außen nicht als Urheber der Demonstrationen in Erscheinung treten, sie in Wirklichkeit aber organisieren und durchführen sollte." Die Zerstörung der Gotteshäuser und die Vernichtung von Kultgegenständen erweckten im Inland und besonders im Ausland Abscheu.

Sogar die NS-Führung sah ein, dass die Ausschreitungen zu weit gegangen waren. Noch am 10. November befahl Goebbels das Ende der Aktionen. Als die NS-Führung erkannte, dass für die entstandenen Verwüstungen die deutsche Versicherungs- und damit die Volkswirtschaft aufzukommen hatte, handelte sie rasch: Nach der „Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes" vom 12. November 1938 hatten die jüdischen Kultusgemeinden auf eigene Kosten die Trümmer ihrer Synagogen zu beseitigen. Auch demolierte Geschäfte waren von den jüdischen Inhabern selbst instand zu setzen. Die Versicherungsansprüche der Juden wurden zugunsten des Deutschen Reiches beschlagnahmt. Darüber hinaus mussten die Juden in Deutschland eine „Sühneleistung" von einer Milliarde Reichsmark aufbringen.

Endgültige Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft und Beschneidung ihres privaten Lebensbereiches

Die folgenden Jahre brachten die endgültige Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben, brutalen Terror und eine umfassende Beschneidung ihres privaten Lebensbereiches.

Mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben" vom 12. November 1938 kam die wirtschaftliche Betätigung der Juden restlos zum Erliegen: Unter anderem war den Juden jetzt das Betreiben von Einzelhandelsgeschäften, der selbständige Betrieb eines Handwerks, sowie der Besuch von Messen und Märkten verboten. Juden konnten ihren Lebensunterhalt nur noch als Hilfsarbeiter verdienen. Sie mussten in geschlossenen Gruppen abgesondert von der übrigen Belegschaft arbeiten. Viele ältere Leute, die über keine größeren Sparguthaben verfügten, gerieten in Not. Die öffentliche Fürsorge stellte ihre Leistungen für Juden völlig ein oder beschränkte sie auf ein Minimum.

Eine unglaubliche Fülle von Verordnungen und Erlassen schränkte das Leben der Juden konsequent ein: Der Besuch von Theatern, Kinos, Museen und öffentlichen Parkanlagen war verboten. In Haigerloch durften sich die Juden nicht mehr frei im Stadtgebiet bewegen: Ein eigener Spazierweg unterhalb des Haags war für sie vorgesehen. Sie durften nicht mehr selbst einkaufen, bestimmte Personen erledigten für sie die Einkäufe bei den christlichen Händlern. Den Friseurgeschäften war es verboten, Juden zu bedienen. Der Friseur kam in das Haag. Für jeden Gang außerhalb des Haags benötigten die Juden eine polizeiliche Genehmigung. 1939 wurden sie rückwirkend zum 1. Juli 1937 vom „Allmandnutzungsrecht", vor allem vom Holzbezug, ausgeschlossen. Im Dezember 1938 wurden die Führerscheine und Zulassungsbescheinigungen für Kraftfahrzeuge der Juden für ungültig erklärt. Papiere und Fahrzeuge waren abzuliefern.

Mit Wirkung vom 1. Januar 1939 waren die Juden verpflichtet, die Zusatznamen „Israel" und „Sara" anzunehmen. Die Pässe wurden mit einem >J< gekennzeichnet.

1939 kam es in Haigerloch wohl im Zusammenhang mit dem missglückten Attentat von Georg Elser am 8. November 1939 im Bürgerbräukeller in München zu einem neuerlichen Pogrom. Alle männlichen Juden wurden verhaftet, im Amtsgericht festgehalten und dort misshandelt und schwerstens gedemütigt.

Die rettende Emigration

Die Maßnahmen der Diskriminierung und Entrechtung, vor allem aber auch der verschärfte wirtschaftliche Druck in den Jahren bis 1941 sollte die Juden zur Auswanderung zwingen. Sie war offizielles Ziel der NS-Politik. Zwischen 1933 und 1941 emigrierten aus Haigerloch 71 Juden, davon 58 zwischen 1938 und 1941. Im Jahr 1941 gelang noch sechs Haigerlocher Juden die Auswanderung. Als letzte Juden aus Haigerloch wanderten am 18. August 1941 noch ein Ehepaar mit ihrem Kind nach New York aus. Am 13. Oktober 1941 wurde die Auswanderung verboten.

Die Frage, weshalb nicht mehr Juden auswanderten, ist nicht leicht zu beantworten, da doch offensichtlich dem Terror nur durch Emigration zu entgehen war. Die meisten Juden scheuten sich trotz aller Repressalien zunächst vor diesem Schritt. Erst die Reichspogromnacht machte schließlich vielen klar, dass Deutschland nicht mehr ihre Heimat war. Aber längst nicht alle Juden konnten neben der im November 1938 verordneten „Sühneleistung" auch noch die hohe „Reichsfluchtsteuer" aufbringen. Zu bürokratischen Behinderungen auf deutscher Seite kamen teils beträchtliche Schwierigkeiten der Einwanderungsländer hinzu. So verlangten z.B. die USA durch ein „Affidavit" den Nachweis durch Angehörige oder Vertrauenspersonen in den USA, dass die Emigranten nicht der Fürsorge zur Last fallen würden.

Vor allem den jungen Juden wurde ab Mitte der 1930er Jahre bewusst, dass dieses Land nicht mehr ihr Land sein konnte. Für die jüngere Generation der assimilierten deutschen Juden war die Auswanderung nicht nur ein Abschied von der deutschen Lebensform und Kultur, in ihr sah sie gleichzeitig einen neuen Anfang. Wie aber empfanden wohl die älteren Generationen die Auswanderung? Sie standen vor der Wahl des Überlebens um den Preis des totalen Bruchs mit dem Land, das sie liebten, für das sie wie selbstverständlich im Ersten Weltkrieg ihr Leben eingesetzt hatten. Diese Meinung war repräsentativ für die Mehrheit der älteren deutschen Juden. Darüber hinaus fühlten sich sehr viele einfach zu alt, zu müde, um im Ausland ein neues Leben zu beginnen. Und als die brutale Ausrottungsmaschinerie des NS-Staates erst einmal in Gang gesetzt war, gab es kaum noch eine Möglichkeit, aus Deutschland fortzukommen.

Zwangsumsiedlungen nach Haigerloch

1938 bestand in Haigerloch noch die Auffassung, dass hier bald keine Juden mehr leben werden, wie aus einem Briefwechsel mit dem Landratsamt hervorgeht. Die Auswanderungsentwicklung seit Mitte der 1930er Jahre schien dies zu bestätigen. 1938 lebten noch 163 Juden in Haigerloch. Vor allem durch die Emigration war ihre Zahl zum 10. Oktober 1940 auf 116 Juden zurückgegangen. Dann schnellte die Zahl der jüdischen Einwohner in Haigerloch sprunghaft nach oben. In Württemberg hatten die Nazis damit begonnen, die Juden in Gemeinden zu konzentrieren, die als jüdische Landgemeinden ohnehin noch einen größeren jüdischen Bevölkerungsanteil aufwiesen. Haigerloch gehörte neben Buchau, Buttenhausen, Laupheim und anderen Gemeinden zu den Orten, in welche die Juden zwangsweise umgesiedelt wurden. Die Geheime Staatspolizei, Leitstelle Stuttgart, teilte hierzu dem Haigerlocher Bürgermeister lapidar mit, dass die jüdischen Hauseigentümer eine bestimmte Zahl von Juden aufzunehmen hatten. Die Unterbringung und die Versorgung der Neuankömmlinge stellte die örtliche Verwaltung vor große Probleme, doch das interessierte die Geheime Staatspolizei in Stuttgart nicht. So wurden im Oktober 1941 insgesamt 102 Juden hauptsächlich aus Stuttgart nach Haigerloch umgesiedelt. Sie wurden teils in andere jüdische Wohnungen eingewiesen, teils im Gemeindehaus, nach dem Beginn der Deportation auch in frei gewordenen Wohnungen untergebracht. Die Zwangsumsiedlung setzte sich auch im folgenden Jahr fort. Insgesamt kamen bis 22. April 1942 auf diese Weise mindestens 186 jüdische Personen nach Haigerloch. Sie lebten in Haigerloch gewissermaßen „auf Abruf", bis sie von hier in die Konzentrationslager deportiert wurden.

Infernalisches Ende im Zweiten Weltkrieg

Nochmalige Verschärfung durch den Kriegsbeginn

Der Kriegsbeginn brachte eine nochmalige Verschärfung der Lebensbedingungen für die Juden: Von 20 Uhr abends bis 6 Uhr morgens galt ein striktes Ausgehverbot für Juden. Ausgangsbeschränkungen hinderten sie manchmal tage- oder wochenlang am Verlassen der Häuser. Radiogeräte, Woll- und Pelzsachen, Schreibmaschinen, elektrische Geräte, Fotoapparate, Ferngläser, Fahrräder und alle entbehrlichen Kleidungsstücke mussten abgegeben werden. Sie verloren ihre Telefonanschlüsse und durften auch öffentliche Fernsprechzellen nicht mehr benützen. Seit September 1941 hatten sie den gelben „Judenstern" auf der Kleidung zu tragen. In Haigerloch wurden Juden, die das Kennzeichen nicht sichtbar oder fest aufgenäht trugen, wiederholt von Parteimitgliedern angezeigt. Ab März 1942 waren auch jüdische Wohnungen durch einen „Judenstern" neben dem Namensschild zu kennzeichnen.

Massenerschießungen in Polen und in der Sowjetunion

Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Das Vorrücken der Truppen war begleitet von antisemitischen Exzessen. Den Wehrmachtstruppen folgten „Einsatzgruppen", die auf Befehl Heydrichs methodisch und schrittweise die „Endlösung der Judenfrage" vorbereiteten und ausführten. Die Juden wurden in Ghettos zusammengetrieben. Vielerorts kam es zu Massenerschießungen.

1941 war das Schlüsseljahr für die gesamte weitere Vernichtungspolitik gegen die Juden. Der Hitlersche Traum der „Gewinnung von Lebensraum" im Osten war untrennbar mit seinem weiteren Ziel verknüpft, „die Juden herauszubringen". Mit der Entscheidung Hitlers, die im besetzten sowjetischen Gebiet lebenden Juden auszurotten, war auch die Entscheidung zur Vernichtung jener Juden gefallen, die man zunächst in die freigewordenen Räume deportieren wollte. Das „Unternehmen Barbarossa" führte zur grausigen Realität der Massenvernichtung. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 begann die Ermordung der sowjetischen Juden durch Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD). Mitte Oktober 1941 setzten die Deportationen aus dem Reich ein: Die Züge verfrachteten die Juden nach Polen, in die westlichen Gebiete der Sowjetunion und in das Baltikum. Damit war die Phase des großangelegten Massenmordes erreicht, der im industrialisierten Völkermord in den Vernichtungslagern fortgeführt werden wird.

Wannsee-Konferenz

Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 diente nicht, wie oft angenommen wird, dem Beschluss der Massentötung der Juden, sondern der Koordinierung bereits erfolgter und der Planung zukünftiger Maßnahmen. Der Auftrag zur Ermordung der Juden war bereits am 31. Juli 1941 schriftlich von Göring an Heydrich erteilt worden: „Ich beauftrage Sie [...], mir in Bälde einen Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen."

Der Begriff „Endlösung der Judenfrage" selbst wird erstmals am 12. März 1941 von Adolf Eichmann, dem Leiter des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), in einem Befehl an Gestapo- und SD-Behörden verwendet. Auf der Wannseekonferenz werden „[...] die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten besprochen [... ]." Adolf Eichmann, verantwortlich für die organisatorische Entwicklung und Ausführung des Endlösungsplanes präzisiert in seinem Jerusalemer Prozess 1961, dass mit „Lösungsmöglichkeiten" die verschiedenen „Tötungsmöglichkeiten" gemeint gewesen seien.

Die Deportation der hohenzollerischen Juden aus Haigerloch

Zuständig für die Durchführung der Deportationen in Württemberg und Hohenzollern war die Staatspolizeileitstelle Stuttgart der Geheimen Staatspolizei. Auf Anweisung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) ordnete die Staatspolizeileitstelle in Stuttgart im November 1941 die Deportation von 1000 Juden an. Es gehörte zum teuflischen System der Gestapo, dass sie der Jüdischen Kultusvereinigung Württemberg die Vorbereitung und Zusammenstellung des Transportes übertrug. Die Kultusvereinigung hatte die Teilnehmer des Transportes zu benachrichtigen und einzuberufen, und den Großteil der finanziellen, organisatorischen und technischen Anforderungen zu bewältigen. Die zur Deportation eingeteilten Juden erhielten genaueste Anweisungen, was sie an Kleidung, Verpflegung und Gebrauchsgegenständen mitnehmen durften. Um ihnen nicht die Jllusion einer Ansiedlung im Osten zu rauben, war ihnen erlaubt, Beile, Spaten, Handwerkszeug, Öfen, Nähmaschinen usw. in bestimmtem Umfang mitzunehmen.

Um die Beschlagnahme ihres Vermögens zugunsten des Reiches zu erleichtern, waren sehr genaue Vermögenserklärungen auszufüllen. Sparbücher, Wertpapiere und Schmuck mussten zurückgelassen werden.

Vier Deportationstransporte aus Haigerloch

Aus Haigerloch wurden die Juden in vier Deportationen abtransportiert:

Am 27. November 1941 fuhr der erste Transport aus Haigerloch ab. 111 Personen wurden nach Riga deportiert (50 von ihnen stammten aus Haigerloch). Nur wenige von ihnen überlebten.

Die zweite Deportation erfolgte am 24. April 1942: 24 Personen wurden nach Izbica transportiert (davon eine aus Haigerloch stammend). Niemand von den Deportierten überlebte.

Eine kleine Gruppe von drei Frauen und zwei Männern wurde am 10. Juli 1942 direkt nach Auschwitz deportiert (davon keine aus Haigerloch stammend). Alle wurden ermordet.

Am 19. August 1942 verließ der mit 136 Personen (wovon 25 aus Haigerloch stammten) größte Deportationszug Haigerloch. Sie wurden nach Theresienstadt verschleppt. Nur eine Frau von ihnen überlebte.

Insgesamt traten aus Haigerloch 276 Personen die Fahrt in die Konzentrationslager im Osten an, was in den Quellen verharmlosend mit „evakuiert" oder „unbekannt verzogen" umschrieben wurde.

Weitere Opfer aus Haigerloch

Mindestens 24 weitere gebürtige Haigerlocher jüdische Männer und Frauen wurden von anderen Orten aus deportiert. Zu den Haigerlocher Opfern zählen, auch wenn sie nicht durch die Deportationszüge verschleppt wurden, ein weiterer Jude und drei Jüdinnen. Im Dezember 1940 wurde eine Frau in Grafeneck durch Euthanasie ermordet. Im September 1942 kam ein Haigerlocher Jude im KZ Buchenwald ums Leben. Ebenfalls im September 1942 verlor im KZ Ravensbrück eine Frau ihr Leben. Eine Jüdin wählte vor der Deportation den Freitod.

Von den 276 aus Haigerloch deportierten Juden überlebten lediglich 13 Personen die Deportationen und das Inferno der Konzentrationslager. Zehn Überlebende meldeten sich nach dem Krieg in Haigerloch. Sie ließen sich nicht auf Dauer in Haigerloch nieder. Heute leben nur noch zwei von ihnen.

Ausgegrenzt, verfolgt und vernichtet

Unbekannt ist, wie die jüdischen Frauen und Männer selbst ihre Deportation empfunden haben. Eine Zeitzeugin hat mehrfach berichtet, dass viele der jüdischen Einwohner sich von ihren christlichen Bekannten verabschiedeten. Es waren Abschiede, bei denen die Tränen ungehemmt flossen, und man wohl stillschweigend davon ausging, dass es kein Wiedersehen geben würde. Auch auf dem Weg zum Bahnhof weinten viele Menschen, als ob sie ahnten, dass es ein Weg ohne Rückkehr war. Andererseits schlossen manche Juden wohl auch eine Rückkehr nicht aus. Wie anders wäre es zu erklären, dass wohl auch jüdische Habe christlichen Bekannten zur Aufbewahrung übergeben wurde und später tatsächlich auch Überlebenden zurückgegeben worden ist? Bei den nach Theresienstadt Deportierten gab es vielleicht die Hoffnung, dass man in dem „Altersghetto" überleben könne. Eine Rolle spielten dabei sicher auch die „Heimeinkaufverträge", die den Deportierten ein Leben bei gesicherter Unterkunft und ausreichender Verpflegung vorgaukelten.

Über all den vielen Zahlen darf nie vergessen werden, dass hinter jeder einzelnen Zahl – auch wenn kein Name genannt wird – immer die ganze Persönlichkeit, das ganze Schicksal eines individuellen Menschen steht. So stehen die Zahlen für den nur sieben Monate alten Säugling ebenso wie für den 89jährigen Greis. Sie stehen für ganze Familien und Verwandtschaften ebenso wie für das frisch verheiratete Paar, das noch mit verschiedenen Namen auf den Transportlisten steht, weil offenbar keine Zeit geblieben war, den gemeinsamen Ehenamen in die Listen einzusetzen. Die Zahlen stehen für den schulentlassenen Jungen, der sich in einer landwirtschaftlichen Ausbildung auf eine Auswanderung nach Palästina vorbereitet. Sie stehen ebenso für den langjährigen Lehrer, Rabbinatsverweser und geistigen Führer der jüdischen Gemeinde Haigerloch.
Helmut Gabeli