Bericht 1990 Konrad Schmidt

Disketten ausgelesen 2011 von J. Mohr

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Wie nahe Tod und Leben beieinander liegen, haben wir nie so deutlich erfahren wie in der vergangenen Woche: am 21.April wurde Simone, unser 7.Enkelkind, geboren, am 22.April ist mein bester Freund, Manfred Hecker, verstorben. Wir hatten uns vorgenommen, unseren 60. Geburtstag im Sommer dieses Jahres gemeinsam zu feiern - nun mußte er vorher gehen. Es liegt eine tiefe Symbolik darin, daß ausgerechnet der Mann, mit dem ich bis zum Tag meiner Verhaftung am 14.Januar 1950 gesinnungsmäßig völlig einig in der Ablehnung der politischen Verhältnisse in unserer alten Heimat war, nun zum Anlaß für die Rückkehr in diese und für die Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen nach der Wende im letzten Jahr und nach dem Beitritt zur Bundesrepublik werden mußte. Über 40 Jahre hat er mir die Treue gehalten. Wir haben die ganze Zeit über regelmäßigen Briefkontakt gehalten und hatten das Glück, uns vor einigen Jahren noch unter dem alten Regime persönlich wiederzusehen und festzustellen, daß sich die Verbindung zur Vergangenheit mühelos wiederherstellen ließ, daß sie eigentlich nahtlos fortbestanden hatte.
Manfred hatte sich dem Druck nicht gebeugt. Nun ist seine Beerdigung Anlaß für die Reise nach drüben, für eine Reise in die Vergangenheit, die noch immer unbewältigt ist und doch einmal bewältigt werden muß. Ein erster Schritt auf diesem Weg war in der letzten Woche das Wiedersehen mit Walter Kempowski in Rottenburg, weitere werden folgen. Am Freitag, 27.4.91, fahren wir morgens los. Erinnerungen werden durch Sinneswahrnehmungen geweckt: Landschaften und Städtenamen lassen Bilder heraufkommen, die mehr als 45 Jahre gespeichert waren und aus einer Zeit stammen, in der ich die Gegend bei illegalen Grenzübertritten kennengelernt und intensiv erlebt hatte.
Heute erinnert nichts mehr daran, nur noch ein Schild: "Freistaat Sachsen". Das war also die Stelle zwischen Hof und Plauen, die ich 1946 oder 1947 zu Fuß im Gelände durchquert hatte. Ich habe diese Grenze in den letzten 42 Jahren nicht mehr übertreten - selbst wenn dies legal möglich gewesen wäre, hätte ich den Anblick uniformierter Wächter auf der östlichen Seite nicht ertragen. Jetzt gibt es keine mehr - ein Alptraum ist zu Ende.

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Ortsnamen wie Plauen, Reichenbach, Chemnitz habe ich als Kind von meinem Vater gehört, der aus Glauchau stammte. Ich verbinde damit keinerlei Anschauung. In Chemnitz - Ost verlassen wir die sogenannte Autobahn und fahren in Richtung Norden bis Mittweida auf der Landstraße. Ich erinnere mich an einen Stausee der Zschopau, wo wir 1949 mit der Klasse in einem Schullandheim waren. Diese Gegend soll zur ersten Etappe unserer Abenteuerreise werden, höchste Zeit für Andrée, das Steuer nach mehr als 600 km aus der Hand zu geben.
Ganz in der Nähe der Griebstein-Talsperre finden wir tatsächlich ein Zimmer mit Frühstück für DM 25.- pro Person, relativ einfach, aber zum einen haben wir keine andere Wahl, zum anderen fehlt uns jede Vergleichsmöglichkeit. Wir sind froh, überhaupt etwas gefunden zu haben, und machen noch einen ausgedehnten Spaziergang zur Talsperre. Sie ist zu meiner Überraschung größer und schöner als in meiner Erinnerung, aber wir hatten damals als Schüler gewiß ganz andere Gesichtspunkte. Es wird geangelt, also kann es mit der Verschmutzung auch nicht so schlimm sein, und das Gesamtbild hält dem Vergleich mit manchem Schwarzwaldort sicher stand. In angemessener Entfernung von den Anglern springen Fische munter aus dem Wasser. Am gegenüberliegenden Ufer stehen Ferienhäuser, "Datschen" ehemaliger Bonzen. Eine ganz normale Ferienidylle. Feine soziale Unterschiede erkennt man allenfalls, wenn eines der Häuser in bedenklicher Nähe zum Waldrand mit einem Kamin versehen ist, Zeichen besonderer Privilegierung.
Unsere Unterkunft befindet sich in einer LPG, die nach wie vor als solche betrieben wird: die Wirtin ist zuständig für die Schweinezucht, der Wirt für die Felder, die sich über 15 auf 20 km erstrecken und unter seiner Leitung von 10 Traktoristen und mindestens weiteren 30 Mitarbeitern versorgt werden. Ihr Zustand ist einwandfrei, so weit wir das beim Abendspaziergang übersehen können. Unsere Gastgeber haben neben dieser Tätigkeit beachtliche Investitionen durch Um- und Ausbau ihres Anwesens für den Fremdenverkehr vorgenommen. Sie sind sehr optimistisch hinsichtlich der weiteren Entwicklung, der sie tatkräftig Bahn brechen. Dabei herrscht weniger der große Pioniergeist als vielmehr eine spürbare Weltoffenheit und Bereitschaft, sich auf das Wagnis einzulassen, ohne sich von übertriebenen Illusionen zu sehr blenden zu lassen.

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Eine Reise in die USA und ein Sohn im Westen sind deutliche Griffe nach den Sternen, aber die bäuerliche Bodenhaftung bleibt erkennbar trotz kleiner Versuche zu selbständigem Unternehmertum. Ich habe den Eindruck, diese Leute haben das, was sie sich von der Wende erwünscht hatten: Arbeit, ein we- nig Wohlstand und viel Freiheit.
Mittweida ist also der südwestlichste Punkt meines kind- und jugendlichen Erfahrungsraumes, der, wie mir immer klarer wird, doch sehr begrenzt war: im wesentlichen von Riesa im Mittelpunkt, Zabeltitz, der Heimat meiner Mutter und Großeltern, Dresden und Leipzig als Extrempunkten und überwiegend kulturell ausgerichteten Zielen. Bautzen als der Lebenskreis mit Radius Null ist nur bedingt hinzuzurechnen, obwohl ich dort die wahrscheinlich entscheidende Prägung meines Lebens erhalten habe. Bautzen wird kein Ziel, keine Station auf dieser Reise sein, aber seine Schatten auf sie werfen. Viele meiner ehemaligen Kameraden von Bautzen waren inzwischen dort, haben alles noch einmal angesehen, dazu die Stadt besichtigt, die wir ja nie gesehen haben und deren Name so synonym für ein unmenschliches Regime steht. Es ist noch kein Ziel für mich, vielleicht später einmal, ein Schritt nach dem anderen, erst einmal kommt der engere Lebenskreis: die Geburtsstadt Riesa und das Herkunftsland der Großeltern. Aber noch sind wir in Mittweida. Zum Frühstück werden wir in die etwas persönlicheren Bereiche unserer Gastgeber gebeten, eine Auszeichnung, die wir zu würdigen wissen, die uns gewissermaßen aus dem Kreis der normalen Übernachtungsgäste und ihrem Gemeinschaftsraum heraushebt. Damit ist auch mehr Möglichkeit für ein Gespräch mit den "Eingeborenen", das uns naturgemäß viel wichtiger ist als das mit anderen "Wessis". Die am Vorabend gewonnenen Eindrücke bestätigen und vertiefen sich, wir werden wiederholt zu einem längeren Urlaub eingeladen, vertrösten auf später und weisen auf die ganz andere Zielsetzung unserer jetzigen Reise hin. Ich bin nicht sicher, ob das verstanden wurde, aber es entspricht ganz der Wahrheit.

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Die Abfahrt verzögert sich etwas durch die Hoffnung auf Auflösung des Nebels, der uns zusätzliche Orientierungsschwierigkeiten befürchten läßt: die wenigen Schilder sind nicht einmal erkennbar. Wir müssen uns buchstäblich von Dorf zu Dorf durchfragen, bekommen auch freundlich Auskunft, werden dabei aber immer wieder in eine andere Richtung geschickt. Andre hat das Auto noch nie so viel wenden müssen wie an diesem Morgen - die Fahrt wird zur regelrechten "Wendereise" - dabei suchten wir eigentlich nur eine Fernverkehrsstraße, die wir schließlich sogar fanden. So wurde die Sucherei gleich symbolisch für unsere Absicht, Land und Leute zu entdecken, Bekanntes wiederzusehen und Unbekanntes kennenzulernen. Auf der Fernstraße ging es dann etwas besser, der Wagen vor uns fuhr sehr vorsichtig, der Abstand hinter uns wurde angemessen eingehalten. Eine einzige brenzlige Situation hätte entstehen können, als der Fahrer vor uns angesichts einer Hinweistafel "Unfallschwerpunkt" eine Vollbremsung einlegte, obwohl weit und breit nichts Bewegtes erkennbar war. Da die Tafel auch eine russische Inschrift enthielt, verstanden wir, daß hier vermutlich Militärfahrzeuge überquerten, die dann das Schild rechtfertigten. Zum Glück hielten alle den richtigen Abstand, und so verlief die Fahrt trotz dickem Nebel einwandfrei, wenn auch anstrengend.
Gegen 10. 30 Uhr kommen wir in Riesa an. Wir parken an der Trinitatiskirche und wollen die Stadt zu Fuß besuchen. Das erste dringende Bedürfnis, der Kauf einer Zahnbürste, kann leider nicht befriedigt werden, da die einschlägige Drogerie samstags geschlossen ist. Ausnahme: am ersten Samstag des Monats ist sie von 9 - 11 Uhr geöffnet, der "lange Samstag"? Der ist aber heute leider nicht, so ziehen wir weiter und fragen in einem Konsum, der gerade noch offen hat. Zahnpasta hätten wir noch haben können, aber Zahnbürsten? - "Führen wir nicht!" - Ton: unfreundlich. Wir fragen weiter und bekommen mehr Vermutungen als klare Auskünfte zu hören. Weder die genannten Geschäfte noch die Ortsbezeichnungen sagen mir etwas, so versuchen wir unser Glück in der nächsten Apotheke. Die schließt erst um 12 Uhr - im Gegensatz zu den anderen Geschäften - und wir werden in Ruhe und sehr freundlich bedient. Die Auswahl ist sehr klein, dafür das Bedauern sehr groß, erste Anzeichen unternehmerischer Liebenswürdigkeit und Bemühung um den Kunden. Wir versuchen, uns in einem

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kurzen Gespräch über die Eigentumsverhältnisse und apothekenbezogenen Besonderheiten zu informieren: die Apotheke ist bereits privatisiert, ein Wochenend- oder gar Nachtdienst besteht noch nicht, die sachlichen wie personellen Voraussetzungen fehlen noch, aber es wird hart daran gearbeitet. Bisher hatte eben der diensthabende Arzt eine entsprechende Medikamentenauswahl im Kofferraum bzw. in der Praxis. Die Apothekerin strahlt Zuversicht aus. Ein weiteres Bedürfnis stellt uns vor die Frage, in welcher Richtung wir weitergehen sollen, denn beide entsprechenden Häuser liegen etwa in gleicher Entfernung von unserem Standort. Wir entscheiden uns für das am Rathaus. Ein Fußweg von gut 10 Minuten durch die Hauptstraße, die auch in jeder anderen Stadt liegen könnte: die Geschäfte geschlossen, die Straße offen, aufgerissen wegen Bauarbeiten an der total veralteten Kanalisation, die modernisiert werden muß. Ein paar Fassaden sind bereits erneuert, der Gerüstbau hat Hochkonjunktur. Ich erinnere mich an dieses oder jenes Geschäft, kaum an Menschen, die dort gewohnt haben. Das Rathaus hat seinen einst so schönen Efeubewuchs völlig verloren, da die Fassade erneuert werden soll. In die ehemalige Klosterkirche können wir auch nicht hinein: sie ist genauso geschlossen wie alles andere auch. Nein, ich widerrufe: die gesuchte Toilette ist wenigstens offen, wenn auch mit etwas sonderbaren Gebräuchen: in der Damentoilette kassiert ein Mann DM -.20 für die Benutzung und DM -.30 für das Händewaschen - "Sanitär" und "DDR" bilden einen unreinen Reim. Diese Erfahrung wiederholt sich mehrfach.
Der Marktplatz ist mehr von Verkäufern als von Käufern besucht, das mag an der Mittagszeit liegen, es ist gegen 11.30 Uhr. Während Andrée sich ein wenig umsieht und ein paar Blumen besorgt, rufe ich Rolf Epperlein an, einen früheren Schulkameraden, um wenigstens einen bekannten Menschen in meiner Geburtsstadt zu sprechen. Wir vereinbaren einen Treffpunkt und gehen eine gute halbe Stunde miteinander spazieren.

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Rolf Epperlein wurde im Zusammenhang mit den Ereignissen des 17. Juni 1953 von der Technischen Hochschule Dresden verwiesen, wo er bis dahin Maschinenbau studiert hatte. Nach einer Flaschnerlehre und weiteren Spezialisierungen, vor allem im Bereich der Heizungstechnik, übernahm er den väterlichen Betrieb und wurde selbständiger Kleinunternehmer. Er beschäftigte 10 Mitarbeiter. Das Geschäft lief glänzend, die Nachfrage überstieg alle Erwartungen, und da schließlich auch die Oberschule eine Heizung brauchte, wurde sein Sohn eben zu den 20% der eigentlich nicht Abiturberechtigten gerechnet, die jede Oberschule doch aufnehmen durfte. Obwohl sein Sohn mit dem Abitur auch den Studienplatz sicher gehabt hätte, trat er in die väterlichen Fußstapfen und wurde genauso erfolgreich. Nach der Wende haben die beiden zwar die Anzahl ihrer Mitarbeiter geringfügig auf 16 erhöht, aber erstaunlicherweise haben sich die Lieferfristen der westlichen Betriebe drastisch erhöht, so daß sich für sie im Endeffekt nichts geändert hat. Rolf läßt sich gern als den ersten Marktwirtschaftler im Sozialismus bezeichnen und wird diesem Ruf auch gerecht. Geärgert haben ihn vermeintliche Hilfsangebote westberliner Firmen, die ihm eine Unternehmensberatung für ganze DM 20.000 pro Woche andrehen wollten, um ihm zu zeigen, wie Unternehmensführung auszusehen habe. Er hätte es ihnen für die Hälfte doppelt so gut erklären können! Immerhin brauchte ja auch die Firma Robotron für ihre Niederlassung in Riesa eine Heizung, und so fand sich im Hause Epperlein schon relativ früh ein Computer, wenn auch für den stolzen Preis von mehr als 36.000 M(Ost), der inzwischen einem moderneren westlichen Produkt gewichen ist, das er für 2.800.- DM erstanden hat, nachdem er vom "Vorzugspreis" von knapp 10.000.-DM lieber keinen Gebrauch machen wollte. Es wird sicher verständlich, wenn solche Leute westliche Berater und Helfer nicht gerade begeistert begrüßen. Für Leute seines Schlages gab es weder vor noch nach der Wende nennenswerte Schwierigkeiten. Ihr intelligenter Unterbau war noch allemal der beste Garant gegen jeden kommerziellen Überrollversuch.

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Die halbe Stunde ist schnell vergangen, wir vereinbaren, daß ich mich telephonisch mit ihm in Verbindung setze, damit er mir am Montag beim Leiter unserer alten Schule einen Termin vermittelt. Den kennt er zwar nicht, dafür den einer zweiten Oberschule, die es zu meiner Zeit noch gar nicht gab und die sich als linke Kaderschmiede entpuppte, deren Chef noch nicht einmal ausgewechselt ist. Es ist vielleicht verständlich, wenn ich da etwas zurückhaltend reagiere und zunächst versuchen will, mit meiner alten Schule Kontakt zu bekommen. Das ist für Montag vorgesehen, bis dahin möchte ich noch Zabeltitz, den Geburtsort meiner Mutter, und Dresden, den Wohnsitz meines Bruders, sehen.
Rolf lotste uns bis zur Elbbrücke - ich hätte auch mit besseren Augen die Stadt nicht mehr gekannt. Vielleicht wird es am Montag anders, wenn wir sie zu Fuß durchstreifen.
Zweieinhalb Stunden hat das erste Wiedersehen gedauert, 150 Minuten reichten noch lange nicht aus, um so etwas wie ein Heimatgefühl auch nur erahnen zu lassen. Es stellte sich in gar keiner Weise ein, alles blieb fremd.
Die Elbe kam mir sehr winzig vor - ich hatte sie bedeutender in Erinnerung, aber vielleicht lag das nur am Wasserstand. Auch die Stadtsilhouette hatte ich anders in Erinnerung, die Eisenbahnbrücke hatte darin drei Bogen - in der Wirklichkeit war es nur einer, und der war bei weitem nicht so imposant! Ich glaubte, den Weg nach Zabeltitz auf Grund der vielen Fahrten mit dem Fahrrad ohne Probleme zu finden - Irrtum! Da auch unsere Straßenkarte viel zu groß war, ging die Sucherei wieder los: an jedem Ortsausgang stand der Name des nächsten Ortes, eine Einrichtung, deren Abschaffung bei uns ich sehr beklagt habe - aber mir sagten diese Namen überhaupt nichts mehr. Wir haben Zabeltitz trotzdem gefunden, sogar ohne nennenswertes Verfahren bei nur sehr wenigen Wendemanövern. Der Nebel hatte sich gelichtet, trotzdem wären wir fast noch über das Dorf hinausgefahren, wenn nicht Andrée im letzten Augenblick die Kirche erkannt hätte, die sie bisher nur auf Postkarten gesehen hatte.

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Wir gehen zunächst zum Friedhof um die Kirche, finden aber trotz mehrerer Runden das Grab meiner Mutter nicht. Andre liest die Inschriften vor, darunter finden sich Namen, die mir in meiner Kindheit durchaus etwas sagten, aber eben nicht die meiner Großeltern, in deren Grab meine Mutter beigesetzt werden wollte. Ich frage Kinder nach einem weiteren Friedhof in Zabeltitz - sie meinen, dies sei der Friedhof. Etwas ratlos beschließen wir, bei Erwachsenen Auskunft zu holen. Auf dem gegenüberliegenden Hof sprechen wir eine Frau an. Sie erklärt uns den Weg zum neuen Friedhof, der am Ortsausgang liegt. Ich frage sie nach dem Namen des Besitzers des Hofes. Sie versteht die Frage nicht, weil es offensichtlich weder Hof noch Besitzer mehr gibt. Darauf präzisiere ich mit der Frage nach der Familie Gebhard - und da kommt ein verunsichertes Erstaunen: ja, das sei früher der Hof von Alfred Gebhard gewesen, sie sei dessen Schwiegertochter. Es war also das Geburtshaus meiner Mutter, der Hof, aus dem meine Großmutter stammte, aber kaum etwas erinnerte an früher: Scheunen und Ställe waren zu Wohnräumen und Garagen umgebaut, kein Wunder, daß ich es nicht wiedererkannt hatte. Die Frau stellte sich als Frau des Cousins meiner Mutter vor, an den ich mich wenigstens einigermaßen erinnern konnte, der Hans hieß, heute aber leider in Berlin sei und erst spät abends erwartet wurde. Wir haben das bedauert und uns verabschiedet. Dank der genauen Beschreibung fanden wir Friedhof und Grab sofort: es war, wie der ganze Friedhof, in einem sehr gepflegten Zustand. Zwischen allen Gräbern waren die Wege geharkt, als ob die Besucher den Rechen hinter sich hergezogen hätten, um keine Spuren zu hinterlassen. Auch das ist eine Form von Totenkult!
Meine Mutter hatte als letzten Willen ausdrücklich festgesetzt, hier bei ihren Eltern beigesetzt zu werden. Ich habe das zwar nie verstehen können, aber respektieren müssen. Ich habe ihr in einem unserer letzten Gespräche erklärt, daß ich dann nie an ihr Grab kommen könnte. Das hat sie einfach ignoriert. Niemand konnte damals ahnen, daß das wichtigste Hindernis dafür einmal und so schnell verschwinden würde. Die andere Frage, wieso sie sich nicht im Grabe ihres Mannes in Wangen beisetzen lassen wollte, blieb unbeantwortet. Alle meine Versuche, darauf eine Antwort zu finden, sind blieben erfolglos. Lassen wir sie beide ruhen.

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Die Überraschung meiner Tante Ilse hätte nicht größer sein können. Sie war völlig ahnungslos, als wir vor der Tür standen, und traute ihren Augen nicht. Wir wurden sehr herzlich empfangen, und es gab viel zu bereden bei einem Kaffee bzw. dann bei einem Spaziergang durch die herrliche Parkanlage in unmittelbarer Nähe des Hauses. Im Hause konnte ich fast alles trotz erheblicher Umbauten identifizieren, in der Umgebung das meiste. Am Schloß steht noch oder schon wieder der Leitspruch des alten Besitzers: "Treu dem Herrn". Man fragt sich, ob damit die allfällige Regierungstreue gemeint ist, aber das mit Krone gezierte Wappen der früheren adligen Besitzer läßt solche Blasphemien nicht aufkommen. Die Anlage hat in den letzten Jahren einer Fortbildungsanstalt für Verkehrsprobleme in der DDR einen durchaus angemessenen Rahmen geboten und macht einen sehr gepflegten Eindruck wie auch das nebenan liegende Ambulatorium, dessen Fassade in strahlendendem Weiß leuchtet. Ein Versuch, bei Rolf Epperlein anzurufen, scheitert an der unterentwickelten Technik.
Wir hatten das Auto an der Kirche gelassen und mit Ilse den Weg dorthin gemeinsam gemacht. Nun bringen wir sie nach Hause und machen allein noch einen anderthalbstündigen Spaziergang durch die riesige Parkanlage und weiter an der Röder entlang, um die bisher gewonnenen Eindrücke erst einmal zu verarbeiten. Andrée studiert intensiv alle Veröffentlichungen, Preislisten, Verlautbarungen, alles, was über die örtlichen Verhältnisse Aufschluß geben könnte. Sie stellt fest, daß die Preise in der Parkschänke schon viel westlicher sind als in Riesa - die Anpassung an mark(t)wirtschaftliche Verhältnisse läuft reibungslos.
Als wir wieder bei Ilse ankommen, begrüßt uns ihre Tochter Karin mit einem Aufschrei: "Willy!" - Damit meint sie mich, bzw. meine Ähnlichkeit mit meinem Vater. Wir hatten uns vor vielen Jahren in Wangen gesehen, auch Andrée kannte sie, und nun lernten wir ihren Mann, Hermann, einen sehr sympathischen Kerl in unserem Alter, kennen und schnell auch schätzen. Die beiden waren heute in Dresden zu Besuch bei Karins Schwester Bärbel und hatten auch keine Ahnung von unserem Erscheinen. Auch ihr Empfang war so herzlich, daß wir der Einladung, in Zabeltitz zu übernachten, trotz mancher damit verbundener Umstände nicht widerstehen konnten.

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Ihre wirtschaftliche Situation ist nicht gerade glänzend, aber auch nicht trostlos. Karin und Hermann sind zwar arbeits-, aber nicht beschäftigungslos. Auch sind sie in einem Alter, in dem Haus und Garten sehr wohl viele Hände brauchen, die anderseits auch bei uns am Ende der Erwerbstätigkeit stünden. Wir hatten nicht den Eindruck einer materiellen Not, zumindest in bezug auf die ältere Generation. Hermann wäre in einer vergleichbaren Stellung auch bei uns mit 60 in den Ruhestand verabschiedet worden, Karin war in der nun aufgelösten LPG für die Hühner zuständig, aber für Eier besteht selbst bei einem Stückpreis von DM -.20 kaum Nachfrage. In bezug auf Bärbel blieben fast alle Fragen offen: über ihr Verbleiben im Schuldienst ist noch nicht entschieden, und ihr Mann wäre als aktiver Offizier der Nationalen Voksarmee ohnehin nach 25 Dienstjahren in den Zivildienst umgeschult worden, was jetzt im Bereich der Steuerberatung der Fall zu sein scheint, einer auch und gerade drüben entwicklungsfähigen Branche. Jeder hat Angst vor der von ihm erwarteten Steuererklärung!
Wir hören von Karins Schwiegersohn. der als Korbmachermeister bisher regelmäßige Staatsaufträge als Existenzgrundlage hatte und ein Zubrot in privaten Aufträgen. Jetzt ist die Grundlage dahin, aber er hat eine Stelle bei Aachen gefunden. Alle sind erschüttert über die große Entfernung, viele beklagen die Abwanderung der jüngeren Generation, aber man darf das sicher nicht so eng und muß es vor allem realistisch sehen in bezug auf die totale Abwirtschaftung des alten Regimes, die man sich gar nicht schlimm genug vorstellen kann.
Die Geschichte kennt noch ganz andere Wanderbewegungen, und im konkreten Falle ist der Rückweg offen wie noch nie. Gegen alles, was wir derzeit bei uns mit Aus-, Um- und Übersiedlern erleben, ist eine derartige Veränderung kaum der Rede wert, keineswegs katastrophal.
Der landesübliche Pessimismus begründet sich weit mehr im emotionalen als im ökonomischen Bereich. Natürlich besteht vielfach die Furcht, die noch schlechter lebenden Polen oder Tschechen könnten die Lücken schließen. Aber damit kommt zumindest das Zugeständnis, daß es eben doch noch viel besser geht als bei den Nachbarn, die man von ganzem Herzen ablehnt. Man fragt sich, was hier die 40 Jahre Bekundung von Solidarität und Völkerfreundschaft bewirkt haben. Nichts. Gar nichts.

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Es ist Zeit, eine kleine Überraschung einzuschieben, die sich ergeben hat, als Hans Gebhard plötzlich erschien. Er war früher als geplant aus Berlin zurückgekommen und hatte von seiner Frau von unserer Zufallsbegegnung gehört. Nun wollte er doch auch selbst sehen, was aus mir geworden war. Er erinnerte sich an viel mehr Begebenheiten aus meiner Kindheit als ich selbst, er ist nur wenige Jahre älter als ich, aber für mich schon immer ein erwachsener Mann gewesen, kein Spielkamerad. Er ist 68 Jahre alt, längst im Ruhestand, kommt von einem Kongreß der Kirche, wie er es ausdrückt, aber ich habe bald den Eindruck, daß es mehr die Zeugen Jehovas oder Bibelforscher sind, zu denen er da gehört. Er behauptet, schon 1945 die Wende für 1989 aus der Bibel vorausgesagt zu haben und sieht sich in allem und jedem nur bestätigt. Niemand scheint ihn aber sonderlich ernst zu nehmen, und so sitzt er die meiste Zeit mehr als Zuhörer dabei. Als ich ihn bewußt ins Gespräch einbeziehen will und mich nach den Einzelheiten in der Einbeziehung seines Hofes in die LPG erkundige, reagiert Ilse sehr heftig und verläßt das Zimmer mit der Begründung, politische Fragen seien ihr zuwider. Ich weiß nicht, ob dahinter nicht mehr als eine tiefliegende Abneigung der beiden zu suchen ist, Karin und Hermann mochten es besser wissen, sagten aber nichts dazu, und so gingen wir wieder in allgemeinere Bereiche und beruhigten die gute Ilse. Hans hatte behauptet, er habe damals etwa 26000 M zahlen müssen für die Aufnahme in die LPG, Ilse hält das für unwahr und ihn für einen Spinner. Hans verabschiedete sich bald darauf, das Thema kam nicht wieder ins Gespräch, aber ein bitterer Rest blieb. Mir war nicht klar, ob er im familiären oder politischen Bereich begründet war. Vergangenheitsbewältigung? Wendenarben? Es läßt sich nicht erkennen.
Das Gespräch blieb nachher im Bereich der ganz persönlichen Erinnerungen, bis man zwischen 10 und 1/2 11 Uhr beschloß, zu Bett zu gehen. Daraus wurde allerdings noch lange nichts, denn es setzte neu ein: zwischen Karin und Andrée im einen, zwischen Hermann und mir im anderen Zimmer. Irgendwann sind wir dann wieder zusammengekommen, um sehr spät dem Palaver ein gewaltsames Ende zu setzen in dem festen Vorsatz, es zu gegebener Zeit andernorts, nämlich in Rottenburg, fortzusetzen.

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Wir hatten unten in Ilses Gegenwart deren Wunsch respektiert, nicht politisch zu diskutieren. Das ging oben aber gleich richtig los, nicht kontrovers, sondern interessiert. Es gab weder extreme Positionen zu verteidigen noch auch nur einen Hauch von Feindseligkeit zu spüren. Unsere Gesprächspartner berufen sich - eine uns allmählich vertraute Verhaltensweise - immer wieder darauf, nie eine reelle Vergleichsmöglichkeit mit den Verhältnissen in anderen Ländern gehabt und sich mit den bestehenden Verhältnissen abgefunden und ihnen sogar positive Seiten abgewonnen zu haben. Manche wehmütige Erinnerung bedauert das, was im alten Regime doch besser für sie war, aber bisher haben wir noch keinen Menschen gesprochen, der deshalb etwa die Wiederherstellung des sozialistischen Versorgungsstaats gewünscht hätte. Wenn man nachhakte und präzisiert haben wollte, was denn eigentlich so erstrebens- und erhaltenswert war, dann reduzierte sich das Wünschenswerte schnell auf den sozialen Bereich, auf die Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit, überhaupt auf den Komplex Sicherheit. Daß dem der Begriff der Freiheit gegenübersteht, die auch ihren Preis hat, wird nur zögernd nachvollzogen, aber schließlich doch akzeptiert. Es darf auch keinesfalls übersehen werden, daß die Frage der Arbeitslosigkeit für Menschen unseres Alters einen ganz anderen Stellenwert hat als als für die jüngere Generation. Anderseits ist die Frage des Ruhestands nun wirklich losgelöst vom politischen System ein sehr individuelles Problem, das jeder für sich zu bewältigen hat. Wem die Arbeit mehr ist als Gelderwerb, der mag bei ihrem plötzlichen Ende eher dazu neigen, dafür Verantwortliche zu suchen, meinetwegen sogar im politischen Bereich, obwohl das nichts miteinander zu tun hat. Sicher ist, daß Helmut Kohls Prognose, es werde durch die Vereinigung keinem schlechter, vielen aber besser gehen, bisher in meinem Erfahrungskreis nicht widerlegt werden konnte. Ich habe wiederholt dazu aufgefordert, mir Beweise für das Gegenteil zu benennen, es ist keinem gelungen, weder hier noch sonst auf der Reise. Letztes Thema ist die Kirche. Wer seine Kinder hat konfirmieren lassen, war schon fast als Widerstandskämpfer stigmatisiert. Trotzdem hatten Karin und Hermann den Mut dazu. Er ist von Haus aus katholisch und fragte mich, ob ich im Studium auch Latein gelernt habe. Als ich bejahte, zitierte er das "Tantum ergo", das Lied, mit dem er die meisten Erinnerungen an seine katholische Kindheit verband. Ein nachdenklicher Schluß des Abends.

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Als Kfz-Fachmann ist Hermann natürlich außerordentlich interessiert an unserem Auto, hat er doch sogar bei Opel seine Lehre gemacht! Andrées Angebot einer Probefahrt nimmt er begeistert an. Als Kommentar kommen dazu weniger Neidgefühle als vielmehr seine Verärgerung über das alte Regime zum Ausdruck, das bei entsprechendem technischen Stand nicht gewillt oder in der Lage war, seinen Bürgern etwas Vergleichbares zu bieten. Wir kommen mit unserem Opel-Kadett übrigens bei den meisten Menschen weit besser an als andere mit ihren Protzkarossen, die wohl Neid und Bewunderung erregen, aber eben doch unerreichbar bleiben, während ein Fahrzeug dieser Art durchaus erschwinglich erscheint.
Ich bitte Hermann, das Auto nach der Probefahrt gleich auf der Straße zu lassen, um Andrée das Wenden zu ersparen. Aber so etwas gibt es bei ihm nicht: der Besuch hat grundsätzlich vom Hof aus abzufahren, alles andere wäre ein grober Verstoß gegen seine Auffassung von Gastfreundschaft. Er wendet das Auto selber, und das mit größtem Vergnügen.
So kann also die Reise weitergehen, das nächste Ziel heißt Dresden, wo wir uns zum Mittagessen angemeldet haben. Der Abschied ist so herzlich wie der Empfang, das Wetter so schlecht wie am Vortag, desgleichen die Verkehrsschilder. Gegen 9 Uhr verließen wir Zabeltitz bei strömendem Regen in Richtung Meißen, das wir wenigstens en passant mitnehmen wolletn. Dazu kam es nicht, da wir in Meißen hätten rechts abbiegen müssen, das aber erst erkannten, als wir bereits links eingeordnet waren. So erging es uns noch oft: die Schilder sind in einer für uns völlig ungewohnten Weise montiert. Da aber das Wetter auch nicht gerade einladend war, verzichteten wir auf den Aufenthalt in Meißen und fuhren direkt weiter nach Dresden.

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Kurz vor der Augustus-Brücke fanden wir einen guten Parkplatz, von dem aus wir zu Fuß in die Altstadt gingen, eigentlich vor allem, um ein Telephon zu suchen, um Wolfgang zu bitten, uns durch die Stadt zu lotsen. Da sahen wir, daß im Moment in der alten Hofkirche, dem jetzigen Dom, eine Messe anfing, also besuchten wir sie.
Die Kirche war im Mittelschiff gut gefüllt, wir fanden im Seitenschiff Platz und waren gespannt auf eine Ansprache in der neuen Welt. Leider wurde sie ersetzt durch ein wenig sagendes Wort der deutschen Bischöfe zum hundertjährigen Jubiläum der Enzyklika "Rerum novarum". Das Thema hätte gerade in dieser Umgebung dringend einer Ergänzung bedurft - sie blieb aus. Dafür sorgte ein professioneller Chor für den Beweis der einmaligen Akustik in diesem Dom. Für so viel Akustik waren leider zu wenig Zuhörer da. Vielleicht lag es auch am Platz im Seitenschiff oder an der falschen Erwartung: ich hätte mir Inhalt gewünscht und fand Form, perfekt in der Darbietung, aber doch mehr Kirchenkonzert, das immer wieder durch Liturgie unterbrochen wurde. Das schätze ich nicht besonders. Selten habe ich das Wort so sehr vermißt wie in dieser Messe. Wie wird das wohl in den letzten 40 Jahren gewesen sein?
Auf der Suche nach einem Telephon gehen wir durch die Trümmer des Schlosses. "Einverstanden mit Ruinen" parodierte der Volksmund die alte DDR-Hymne, aber auch dafür fehlt mir das Verständnis. Angeblich wurde die gesamte Baukapazität nach Berlin verlegt. Für den prestigereichen Wiederaufbau von Zwinger und Oper reichte sie doch auch!
Auf dem Altmarkt sehen wir Telephonkabinen, leider sind die Apparate noch nicht angeschlossen. Auf dem Postplatz werden wir fündig. Wir können uns melden.
Zwischen Oper und Brühlscher Terrasse wimmelt es von Touristen, überwiegend aus den alten Bundesländern, die mir aber keinen so guten Eindruck machen, daß ich mich mit ihnen identifizieren lassen möchte. Unangenehm ist aber auch der angebliche Ausländer, der uns vermeintlichen Goldschmuck als Notverkauf wegen einer angeblichen Panne andrehen möchte. Bei entsprechend eindeutiger Ablehnung unterläßt er weitere Versuche bei uns.

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Das Stadtbild enttäuscht mich: die alten Teile machen einen heruntergekommenen, müden Eindruck - da ist nichts vom ehemaligen Glanz einer großen Zeit zu spüren, aus denen sie immerhin stammen. Aber die sozialistische Architektur ist erst recht nicht besser! Am wohltuendsten sind noch die freien Flächen, die eine vielleicht noch vernünftige Stadtplanung immer wieder erhalten hat - hoffentlich noch recht lange!
Wir haben beim Hotel Bellevue geparkt, das sich in seinem äußeren Erscheinungsbild keineswegs von westlichen Hiltons, Sheratons und dergleichen unterscheidet, auch nicht im Preis, wie wir später erfahren. Wir können nur die bedauern, die darin wohnen müssen, und das nicht wegen der Preise, sondern wegen der Unwirklichkeit, der sie dort begegnen.
Bald erkennen wir Wolfgangs Auto. Wir haben alle Mühe, ihm zu folgen, denn die Durchgangsstraßen erlauben immerhin stolze 70 km/h, was uns aber kaum einen Blick zur Seite gestattet, so daß wir hinterher nicht wissen, wie wir eigentlich zur Nöthnitzer Straße gekommen sind. Aber ohne seine Führung hätten wir sie erst recht nicht gefunden. Auf einem Übersichtsplan hatten wir noch die alten Straßennamen gesehen, teilweise waren aber auf den Straßenschildern schon die neuen bzw. uralten angebracht, so daß die Orientierung nur nach dem Zufallsprinzip möglich war. Ein einziges Schild findet sich durchgehend auf unserer Straße, PRAHA, aber das merken wir erst, als wir bereits am Ziel angekommen sind. Es hätte hilfreich sein können, wenn wir gewußt hätten, daß die berühmte Prager Straße uns in die richtige Richtung führt.
Wolfgang hatte uns Pirna als Hauptrichtung angegeben, aber das fand sich auf keinem einzigen Schild - und die Prager Straße ist bis zur Unkenntlichkeit erneuert.
Wolfgangs Haus hätte ich sicher nicht wiedererkannt, obwohl oder weil seit meinem letzten Besuch vor mehr als 42 Jahren nichts verändert worden ist. Ich kann eine gewisse Beklemmung nicht verleugnen, stehe gewissermaßen vor einer neuen Station, der vierten nach Mittweida, Riesa und Zabeltitz, die aber ihrerseits nicht die politische Brisanz enthielten, die ich in Dresden erwarte.

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Mittweida brachte die Erfahrung einer anscheinend gelungenen und weiterbestehenden LPG, Riesa die des DM-Sozialisten oder sozialistischen Marktwirtschaftlers in seiner gelungenen Form, Zabeltitz die gescheiterte LPG und die zweifelhafte Dorfgemeinschaft, deren gepflegtes Äußeres nicht über die tiefen Risse des Mißtrauens und Neides hinwegtäuschen konnte. Der schmucke Friedhof als Symbol einer sozialistischen Idylle, denn vom Zusammenhalt der Menschen in den letzten 40 Jahren, von dem so oft geschwärmt wurde, ist bei genauer Nachfrage nicht mehr die Rede. Vorsicht, Angst, Mißtrauen hatten bei weitem das vertrauensvolle nachbarschaftliche Verhältnis einer Dorfgemeinschaft verdrängt. Zwar macht auch das Dorf einen gepflegten Eindruck, gut unterhaltene Anwesen, hübsche Gärten, gefegte Straßenränder, kein Bürgersteig. Die Straße ist nicht bis zum Rand betoniert, steigt auch immer höher durch immer neue Auflagen statt einer grundlegenden Überholung. Optisch sinken die Häuser damit immer tiefer, es gibt Probleme mit der Kanalisation, aber sie werden tatkräftig in Angiff genommen. Auch unterwegs und nun in Dresden hatten wir den Eindruck, daß sehr viel getan wird. Was aber wird gedacht?
Die Herzlichkeit des Empfangs wischte alle Überlegungen hinweg, man war sich überhaupt nicht fremd. Das Interesse am bisherigen Verlauf unserer Reise war sehr groß und echt. Ich weiß nicht, ob unsere Findigkeit oder unsere Beweglichkeit mehr Anerkennung fand, auf jeden Fall nahmen sie staunend zur Kenntnis, daß wir zunächst allein in Riesa und in Zabeltitz waren. Das hatte ich mir so gewünscht.

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Das erste Gespräch blieb im wesentlichen im familiären Bereich, politische Fragen wurden allenfalls in Anspielungen, Wortspielen oder Bonmots angedeutet, aber nicht aufgegriffen. Als Ziel eines gemeinsamen Spaziergangs schlug ich das Elb-Ufer in der Neustadt vor - Ruth und Wolfgang wollten uns eigentlich Zwinger und Schloß zeigen, die wir ja schon gesehen hatten. Wir fuhren also mit Bus und Straßenbahn hinüber und sahen uns Dresden vom Osten her an, wobei Ruth mit Andrde, ich mit Wolfgang sprach. So hatten unsere Frauen endlich Gelegenheit, sich etwas näher kennenzulernen. Da unser Spaziergang unweit der Bautzener Straße begann, lag das erste Thema unserer Unterhaltung schon nahe: Walter Kempowski, der kürzlich im Ost-Fernsehen aufgetreten war und auf Wolfgang keinen besonders guten Eindruck gemacht hatte. Ich erläuterte ihm unser Verhältnis und erzählte von unserer jüngsten Begegnung in Rottenburg. Hin und wieder erklärte Wolfgang eine Sehenswürdigkeit, ein Bauwerk oder eine lokale Begebenheit. Schon bei der Ortsdurchfahrt hatte er verschiedene Hinweise gegeben, aber Dresden war und ist mir eine fremde Stadt, an die ich nur sehr wenige Erinnerungen habe, und die sind reichlich verblaßt.
Als Kind war ich mal im Zirkus Sarasani, den es längst nicht mehr gibt, dann als Junge in Oper und Theater, eher Operette. Aber Wolfgang erinnert sich an vieles gewisssermaßen für mich, eine Feststellung, die ich immer wieder treffen muß. Es ist bestimmt kein böser Wille dabei, aber die 10 Jahre Altersunterschied wirken sich einfach aus.
Gelegentlich hält er seine Erlebnisse für meine oder umgekehrt. Wolfgang hat mehr als 40 Jahre in dieser Stadt gelebt, das prägt schon. Für mich gehören zum Ort die Menschen, die ihn verlebendigen - und die gibt es für mich außer Wolfgang und seiner Familie nicht. Ist es Ironie des Schicksals, daß ich in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung seinerzeit verurteilt wurde? Das hat ihm immer menschlich sehr weh getan, und er hat wirklich sehr viel unternommen, um mir zu helfen. Verstanden hat er meine Handlungsweise wie meine Überzeugungen nie.

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Auf dem Rückweg kommen wir am Landgericht vorbei, dem gegenüber Ulrike und Harald ihre Wohnung haben. Abgesehen davon, daß das Gebäude längst nicht mehr die Funktion von früher hat - es ist jetzt Teil der Universität - läßt es mich erstaunlich kalt. Die einzige Erinnerung daran ist ein nicht enden wollendes Gelächter, in das wir nach der Pseudoverhandlung und Verurteilung ausbrachen, eine normale Reaktion auf den monatelangen Streß.
Wolfgang duldet nicht, daß wir das Auto im Freien lassen, dafür gibt es zu viele Gruselgeschichten von aufgebrochenen Westautos. Er war schon dagegen, daß wir überhaupt im Auto nach Dresden wollten, wo die Stadt doch die höchste Unfallquote in den neuen Bundesländern hat. Wir haben uns davon nicht einschüchtern lassen und festgestellt, daß dort auch nicht anders gefahren wird als in westdeutschen Groß- oder Mittelstädten. Er überläßt uns seine Garage, nimmt im Tausch die seines Schwiegersohnes, der sein ostdeutsches Fabrikat im Freien läßt. Immerhin wissen wir seine noble Geste zu schätzen und nehmen das Angebot an.
Dem Haus gegenüber steht eine Reihe von Müllcontainern für die ganze Straße, die leider auch von Fremden gefüllt werden, seit die Müllabfuhr Gebühren kostet. Dabei scheint mir das noch vernünftiger als die vielen wilden Müllablagerungen in der Landschaft, die sehr unangenehm wirken und schnellstens beseitigt werden sollten. Gelegentlich entfernt irgendein öffentlicher Dienst wenigstens die Autowracks, die Polizei kümmert sich nicht übermäßig um solche Angelegenheiten, überhaupt übt sie eine beachtliche Zurückhaltung und traut sich so gut wie nichts mehr zu, nachdem sie sich zu viele Jahre alles hat erlauben dürfen. Hier besteht noch großer Handlungsbedarf. Es sind nur sehr wenige Polizisten zu sehen, mehr Rettungsfahrzeuge, die mit ihrer Pfeifsirene an die amerikanische Polizei erinnern. Zwei Ängste stehen sich gegenüber: die vor Gewalttätern und die vor dem Polizeistaat. Beide will man nicht, aber der Mittelweg ist noch nicht zu finden.

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Die abendliche Konversation läßt die Eindrücke des Tages Revue passieren, die von uns erst langsam verarbeitet werden müssen. Politische Grundpositionen werden so schnell weder geändert noch verständlicher für den anderen. Da bestehen noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten, die durch menschliche Zuuneigung überbrückt, aber nicht ausgeräumt werden können. Wolfgang glaubt an den humanen Sozialismus oder sozialistischen Humanismus und bedauert offensichtlich den Lauf der jüngsten Geschichte. Er versucht auch, dieses Bedauern als Meinung eines großen Teils der Bevölkerung darzustellen, was ich nach meinen bisherigen Beobachtungen entschieden bezweifle. Ich behaupte, erheblich mehr Leute im Westen zu finden, die die Mauer wieder aufbauen möchten, als er Leute findet, die das alte Regime wiederhaben möchten. Natürlich werden sich dort viele Leute wundern, wenn sie deutlich mehr und vor allem anders arbeiten müssen, aber sie werden arbeiten können, wenn sie es wirklich wollen. Was die Arbeitslosigkeit bei uns anbetrifft, so kenne ich persönlich erheblich mehr Leute, die einen zweiten Job haben, als echte Arbeitslose. Gewiß gibt es dort eine weitverbreitete soziale Unsicherheit oder gar Angst, aber bei genauerem Hinsehen oder bei veränderter Fragestellung verändern sich viele Situationen doch recht deutlich. Je allgemeiner man nach der Lage fragt, desto schlechter wird sie dargestellt: "dem" Rentner, "dem" Kurzarbeiter, "dem" Arbeitslosen geht es schlecht, wenn man einmal von gewissen Neuanschaffungen wirtschaftlicher Güter absieht, die ja die Wirtschaft auch beachtlich ankurbeln. Fragt man jedoch konkret in der Einzelsituation des Herrn oder der Frau X, so ist das immer etwas anders und sehr oft eine Frage der Mentalität oder des Charakters. Schuldzuweisungen sind allemal leichter als Anerkennung von Mitverantwortung. Umgekehrt habe ich nie behauptet, die Wende sei das Verdienst der CDU oder des Bundeskanzlers - das hat der selbst nicht einmal getan! Besser schiene mir eine biblische Datierung etwa der Art, daß sich zur Zeit der Kanzlerschaft H.Kohls innerhalb ganz kurzer Zeit die Gelegenheit bot, die Einheit Deutschlands ohne Verzicht auf die Freiheit zu bekommen. Hier hätte jeder Kanzler zugreifen müssen -über die finanziellen Kosten hätte es keine Zweifel geben dürfen, es gab bei den Verantwortlichen sicher auch keine, nur war es eine Ungeschicklichkeit, das Volk etwas anderes glauben machen zu wollen.

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Aber wer erwartet von Politikern, die ja ihre Wiederwahl zu denken haben, noch so viel Mut und Aufrichtigkeit? Das gilt für die Angehörigen aller politischen Lager! Die Staats- oder Regierungsform sollte danach nicht beurteilt werden, Mißbrauch ist eben dort erst richtig möglich, wo es Freiheit gibt, also nehmen wir ihn in Kauf und versuchen wir, das Urteil über die Schuldigen den zuständigen Instanzen zu überlassen. Ich war und bin von der Richtigkeit der Straußschen Formulierung überzeugt: Freiheit oder Sozialismus - wobei ich den Sozialismus in jeder jeder Erscheinungsform ablehne, in der "nationalen" wie in der "demokratischen" oder vermeintlich "humanen". Was ich nie in Frage stellen lasse, ist die soziale Bindung, aber die hat mit Sozialismus nichts zu tun.
Das starke soziale Engagement möchte ich sowohl Ruth als auch Wolfgang ausdrücklich anerkennen. Hier liegt eine tragfähige Gemeinsamkeit, die außer Zweifel steht, obwohl sie aus höchst unterschiedlichen Quellen gespeist wird. Sie wissen offensichtlich nicht, wo ihre Ideologen ihre Ideen abgeschrieben haben und hören erstaunt, daß in der Apostelgeschichte bereits davon die Rede ist, daß jedes Mitglied der Gemeinde sein Vermögen in die gemeinsame Kasse einbringen und dann nach seinen Bedürfnissen daraus zugeteilt bekommen sollte. Sollte das damals wirklich funktioniert haben, wäre das nur aus der Endzeitstimmung und unmittelbaren Heilserwartung der ersten Christen zu erklären. Mir ist keine andere einschlägige Stelle bekannt, und die Praxis der Kirchen- und Sozialgeschichte ist weit davon entfernt, offenbar nicht zuletzt auf Grund einer realistischen Einschätzung des Menschen, seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten. Das Schlagwort von der Vergleichbarkeit der christlichen Soziallehre mit sozialistischem Gedanken- gut hat Wolfgang schon immer gut gefallen, aber daß es jetzt so in Frage gestellt wurde, gefiel ihm natürlich weniger gut. Theorie und Wirklichkeit purzeln ständig durcheinander. Man sollte den Sozialisten zu bedenken geben, daß es den Christen um eine ganz andere Form der Sicherheit ging, als sie sie jemals bieten können, um die letzten Dinge, um Tod und Leben.

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Zur Einigung Deutschlands wird noch einmal eindeutig festgestellt, daß sie durch Beitritt der ostdeutschen Länder der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes erfolgte, daß es eine Entscheidung der gewählten Vertreter der DDR, nicht eine Eroberung durch den Westen war. Der einzelne Bürger war daran nicht unmittelbar beteiligt, konnte seine Stimme jedoch für den gesamtdeutschen Bundestag abgeben und hat das auch mit eindeutigen Ergebnissen getan. Die Frage, wie wer sich entscheiden würde, wenn nächsten Sonntag gewählt werden müßte, wird jede Woche anders beantwortet und gehört mehr in den Bereich der Demagogie als der Demoskopie, die in einer Demokratie zwar möglich, aber nicht Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung ist.
Das Gespräch läuft immer wieder Gefahr, zwischen Rechtfertigung und Rechthaberei zu versinken, wird dann durch Erinnerungen an Episoden aus der Vergangenheit neu belebt, um gerade dabei sofort wieder an die Problematik von Wahrheit und Wirklichkeit zu stoßen. Jeder hält seine Erinnerung für die Wahrheit. Ein zufällig belegbares Beispiel kann das erhellen: Wolfgang erzählt aus seiner Schulzeit, von Lehrern und Mitschülern und von Streichen, die sie begangen haben (möchten?). Schließlich erwähnt er eine Anmerkung, die in seinem Abiturzeugnis stünde: "Seine Leistungen entsprechen nicht seiner Begabung." - Mir ist diese Geschichte auch in Erinnerung, aber etwas anders. Ich habe izwischen meine Unterlagen durchsucht und ein Zeugnis aus der 2. Klasse der Grundschule gefunden, in dem der Klassenlehrer, Herr Förstel, bescheinigt: "Konrad muß sich mehr anstrengen. Seine Leistungen entsprechen noch nicht seiner Begabung."
Daß sich eine solche Beurteilung zweimal finden sollte, wäre mehr als ein merkwürdiger Zufall, abgesehen davon, daß in Abgangszeugnissen derartige Charakteristiken nie üblich waren. Das möchte ich erst einmal sehen. Vielleicht findet er es auch, dann können wir vergleichen. Ich bringe das Beispiel nicht, um Wolfgang der Unwahrheit zu bezichtigen, er ist fest von seinem Wahrheitsgehalt überzeugt. Es soll vielmehr die Problematik der Wahrheit im Zusammenhang mit der Erinnerung nach so vielen Jahren dienen.

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Interessant ist die Grundstruktur in der Erinnerung jedes Menschen. Bei Wolfgang ist es der ständige Kampf mit irgendeiner Autorität, einer konkreten wie Polizei, Lehrer, Professoren, oder abstrakten wie Staat und Gesellschaft, Kirche oder Gerechtigkeit. (Meine eigene Grundstruktur habe ich noch nicht so eindeutig analysieren können, vielleicht gelingt das anderen besser.) Meistens erweist er sich der Autorität gegenüber überlegen, zumindest moralisch. So etwas kann reizend wirken, aber auch aufreizend. Wahrscheinlich gehe ich auch manchen Menschen mit meiner Gewohnheit, Probleme mit Anekdoten oder Witzen zu veranschaulichen, auf die Nerven. Sie mögen es mir verzeihen oder zu verstehen geben! Dafür hat Wolfgang allerdings noch mehr Sinn als für meine Neigung, die Dinge beim Wort zu nehmen. Ich mag Eulenspiegeleien, im Ernst aber fasziniert mich die Etymologie als eine Quelle unendlicher Anregungen und Erkenntnisse. Ich bewundere es, wie in allen Sprachen, insbesondere in den alten, Probleme und Lösungen treffend formuliert angeboten werden. Aber aus Erfahrung weiß ich auch, wie mißverständlich, ja verletzend gerade das Wort sein kann, wie wichtig für das gegenseitige Verständnis Mimik und Gestik sind, Körpersprache ein Kommunikationsmittel ist. Da wirkt sich meine Sehbehinderung sehr belastend aus. Ich leide darunter, den Gesichtsausdruck meiner Gesprächspartner immer weniger zu erkennen und dadurch oft ihre Redeabsicht immer weniger zu verstehen. Sprache ist ein Verständigungsmittel, aber eben auch nur eines, wenn es um Darstellung, Deutung und vielleicht gar Bewältigung der empirischen Wirklichkeit geht. "Darstellung, Deutung und Bewältigung der empirischen Wirklichkeit mit den Mitteln des Wortes", so definierte einer meiner Lehrer (K. Ziegler) das Wesen und die Aufgabe der Literatur. Ich habe nie eine bessere Definition der Kunst gefunden: man braucht nur das "Wort" durch "Ton", "Form", "Farbe" oder sonst etwas zu ersetzen, um beliebige andere Bereiche der Kunst zu treffen. Nietzsches Gedanke, wonach die Wahrheit gewissermaßen erst oder nur durch Kunst erträglich gemacht werden kann, gefällt mir.

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Nach stundenlanger Diskussion finden wir die Worte schwerer, tun die Müdigkeit des Tages und das Bier des Abends ihre Wirkung. Man hatte das Gefühl, alles gesagt zu haben. Hatte man das Gefühl, es gesagt zu haben? Das hängt von der Grundabsicht ab, ob man etwas sagen, mitteilen oder im Gespräch zu Erkenntnissen kommen wollte. Über die Toleranz ließe sich stundenlang reden, ohne dabei etwas zu sagen, und nicht immer stimmt das Gesagte mit dem Gemeinten überein! Es ist fast Mitternacht, als wir den Abend beenden. Wir sind gerührt von der Selbstverständlichkeit, mit der Ruth und Wolfgang uns ihr Schlafzimmer überlassen und sich mit Notbetten behelfen. Dabei hatten wir sie nur gebeten, uns in der Nähe eine Unterkunft zu besorgen - aber das kam für sie überhaupt nicht in Frage, abgesehen davon, daß die Bitte wohl auch etwas naiv war, denn
-00- <1> Erinnerungsfähigkeit 1938 Juden Unglück NAPOLA-Ausleseverfahren
<2> Das 4.Reich - Mittelschule
<3> DJ in der HJ Struktureller Aufbau Führerprinzip
<4> D3 in der HJ Uniform
<5> D3 in der HJ Dienste vormilit.Ausbildung
<6> DJ in der HJ Dienste Ideologie Verunsicherung
<7> KZ - Drahtfunk - Luftangriffe
<8> Schulwechsel WG Kriegsende
<9> Zusammenbruch oder Befreiung?
<10> Einquartierung Engländer und Russen
<11> Schwarzmarkt und Zigarettenhandel
<12> Physik-Nachhilfe Angelhaken
<13> Schule Neulehrer
<14> Strafarbeiten: Gedichte und griech.Alphabet
<15> 1946 erste Reise in den Westen
<16> Wangen 1946
<17> 1946 Neues politisches Leben FDJ
<18> 1947 Schulwechsel: Oberschule
<19> 1947 zweite Reise nach Wangen
<20> Schulbesuch in Wangen - Capitaunbe Noel
<21> 1948 Währungsreform - erste selbständige Westreise
<22> 1948 erste selbständige Westreise
<23> Aufsatzthemen im Osten - Tanzstunde
<24> Tennisplatz und Freibad - STO
<25> Klavierunterricht bei Dr.L.
<26> 1949 Reise nach Wangen - Verhaftung 14.01.1950 JKS 2
<27> 1949 Gründung der DDR - Verhaftung - Ende der Nachkriegszeit
<28> 1950 - Dresden Bautzener Straße
<29> Untersuchungshft
<30> Untersuchungshft Prozeß
<31> Bautzen Zelle J.G.

Der "Dienst" fand an jedem Mittwoch und Samstag von 14 bis 16 Uhr statt. Die Jungen eines Geburtsjahrgangs wurden innerhalb ihres Wohngebiets zusammengefaßt und trafen sich zum befohlenen Termin in einheitlicher Kleidung am festgesetzten Ort. Das war ein Jugendheim, der Sportplatz oder auch die
Schule, je nachdem, was auf dem Dienstplan stand. Den setzte
der Fähnleinführer fest, der mindestens 5 Jahre älter und an
seiner grün-weißen Führerschnur zu erkennen war. Jeder Jahrgang bildete eine Einheit, einen "Jungzug", dessen Führer eine grüne Schnur trug und höchstens 2 Jahre älter war als seine Untergebenen. Innerhalb des Jungzugs gab es in aller Regel 4 Jungenschaften unter je einem gleichaltrigen Jungenschaftsführer, der die rot-weiße Schnur trug. Um das Führerprinzip ins letzte Extrem zu treiben, bestand jede Jungenschaft aus drei Horden zu drei Mann, natürlich mit einem Hordenführer an der Spitze. So bestand also jeder Jungzug aus etwa 40 Jungen (bei den Jungmädchen war es genau so, hieß nur etwas anders), entsprach also etwa einer Schulklasse und bildete die normale Einheit, in deren Rahmen die Dienste abgehalten wurden.-

Die starke Untergliederung sorgte dafür, daß praktisch jeder "Führer" einer noch so kleinen Einheit war, und wenn keine Einheit mehr zu vergeben war, wurden "Sonderführer" ernannt, die irgendeine Sonderfunktion zu übernehmen hatten. Ihr Aufgabenbereich konnte von der Wartung von Sport- oder Musikgeräten bis zur "Führerschulung" gehen, das heißt intensive Ausbildung des Führernachwuchses. Die einheitliche Kleidung bestand aus einer Uniform, die Kluft hieß und deren einzelnen Teile genauestens festgelegt waren: im Sommer trug man eine kurze, schwarze Hose, ein braunes Hemd und weiße Kniestrümpfe sowie ein Käppi und derbe Schuhe. Weiteres Zubehör waren ein schwarzes Halstuch mit braunem Knoten, ein Schulterriemen, ein Koppel und ein Fahrtenmesser. Auf dem Hemd waren Dienststellung sowie -rang und Einheit zu erkennen, so daß man immer und überall leicht zu identifizieren war. So etwas diszipliniert ungemein! - Im Winter trug man eine lange Hose und eine schwarze Uniformjacke sowie eine Schirmmütze mit herunterklappbaren Ohrenschützern bei ganz großer Kälte, die es natürlich nie gab. In dieser Aufmachung versammelte man sich am vorgesehenen Platz, bis der Befehl zum Antreten ertönte. Das ging dann genau nach militärischem Ritual vor sich und wurde stundenlang geübt. Mit 10 Jahren lernte man die Kommandosprache, das Marschieren und alle Gepflogenheiten einer uniformierten Gesellschaft. Körper und Geist wurden stets parallel uniformiert: der Körper auf Sport- und Exerzierplatz, der Geist im Schulungsraum. Dort nahm das Singen einen besonderen Platz ein: das Programm reichte vom Volks- bis zum Soldatenlied, wobei das Schwergewicht immer auf Marschliedern lag, aber auch unterhaltsame Räuberlieder nicht zu kurz kamen.

Die ideologische Schulung merkten wir Jungen natürlich nicht, wenn es etwa in einem Lied hieß: "Die Zeiten sind vorüber, die Zeiten sind vorbei - wo früher stand ne Kirche, steht heut ne Brauerei... Von Kirche wußten wir nichts mehr, von Brauerei noch nichts, aber das Absingen von Liedern ist ja auch nicht als Meditationsübung vorgesehen. Die Lieder stammten zu einem guten Teil aus der Jugendbewegung und waren nur geringfügig der "neuen Zeit" angepaßt worden, aber wir wußten das nicht und unsere Eltern merkten oder hörten es nicht. So überläuft es mich heute noch kalt, wenn auf Seniorenveranstaltungen die "alten Lieder" mit Hingabe und Andacht gesungen und die "al-